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Newtown ist traurige Geschichte. Doch seit dem Amoklauf an einer Grundschule in der Stadt starben in den USA abermals Zehntausende Menschen durch Schusswaffen. Eine Gedenkfeier in Washington mahnt: Schluss damit!
Neil Heslin ist sehr früh dran. Eisiger Wind pfeift über den menschenleeren Vorplatz der National Cathedral in Washington DC, ein paar trockene Blätter tanzen in der flachen Dezembersonne. Heslin hat die Hände in den Taschen vergraben und einen Rucksack über dem Arm, mit seinem dünnen Sakko und dem schwarzen Cowboyhut wirkt er etwas verloren vor dem Portal. Aber die Kälte scheint ihm nichts auszumachen. "Ich habe hier viel Frieden gefunden", sagt er mit leiser Stimme. "Ich war an Ostern schon hier."
Einen Tag vor dem ersten Jahrestag des Amoklaufs von Newtown, Connecticut, wollen Menschen aus dem ganzen Land an die Opfer von Waffengewalt erinnern und für bessere Gesetze beten; auch die Sängerin Carole King wird erwartet. Die Andacht fängt erst in zwei Stunden an. Aber Heslin ist nicht irgendein Gast: Der 52-Jährige hat vor zwölf Monaten seinen Sohn verloren. Jesse Lewis war unter den Opfern des Amoklaufs an der Grundschule Sandy Hook. Am 14. Dezember 2012 hatte ein 20-Jähriger dort 20 Kinder, sechs Erwachsene und schließlich sich selbst niedergestreckt. Jesse war sechseinhalb Jahre alt, Heslin hat außer ihm keine Familie. "Er war mein einziger Sohn."
Eine klaffende Wunde
Der Bauarbeiter hat Newtown in der Woche des Jahrestags verlassen wie viele andere auch. Die Kleinstadt ist eine klaffende Wunde, das wird am sichtbarsten aus der Luft: Die ehemalige Grundschule wurde in diesem Herbst dem Erdboden gleichgemacht. Aus dem Dorf selbst ist kein Blick auf die Brache möglich, die Abbruchstelle ist weiträumig abgesperrt. Auch sonst hat die ehemalige Idylle sich so weit wie möglich eingeigelt: Die meisten Medien haben eine Bitte der Stadt akzeptiert, in der Vorweihnachtszeit fernzubleiben; wer trotzdem kommt, wird von wüsten Schildern zum Umkehren aufgefordert.
Selbst am Telefon weigern sich die Bewohner, mit der Öffentlichkeit zu sprechen. Wer Kontakte hat, bekommt allenfalls gegen die Zusicherung von Anonymität ein paar Auskünfte: Die Stimmung im Dorf sei explosiv, sagt ein pensionierter Lehrer, es gebe kaum eine Möglichkeit, zwischen den Ansichten mancher Eltern und etwa Sportschützen zu vermitteln. Dass Waffenlobbyisten demonstrativ im örtlichen Café auftauchten, habe die Sache nicht besser gemacht. "Es ist, als wären alle möglichen Gefühle in einen riesigen Mixer geworfen", berichtet der Gewährsmann aus Newtown.
Im November wurde nach langem Warten der Abschlussbericht des Staatsanwalts öffentlich. Er zeichnete das Bild eines psychisch kranken Täters, dessen Mutter mit der Betreuung überfordert war. Adam Lanza habe seine Fenster monatelang mit schwarzen Mülltüten verklebt und mit seiner Mutter nur noch per E-Mail kommuniziert, schreiben die Ermittler. Schon in der fünften Klasse soll er in einem Aufsatz über Amokschützen fantasiert haben. Das gemeinsame Hobby Schießen war für die Mutter aber wohl der einzige Zugang zum Sohn. Bevor Lanza sich auf den Weg in die Grundschule machte, erschoss er seine Mutter, während sie schlief.
"An die unnötige Gewalt erinnern""Newtown ist eine Gemeinschaft mit gebrochenem Herzen", sagt Heslin in Washington. "Es ist sehr schwierig jetzt zu den Feiertagen." Seit dem Tod seines Sohnes kämpft er für Änderungen. Er hat einen tränenüberströmten Auftritt im Kongress absolviert und es ertragen, als ihn die Waffenlobby wegen Trunkenheitsfahrten als unzurechnungsfähig attackierte. Bis zuletzt stand zu Hause der Weihnachtsbaum, den er 2012 zusammen mit seinem kleinen Sohn aufgebaut hatte. "Ich wollte an dieser Andacht teilnehmen, um an die unnötige Gewalt zu erinnern", sagt er in Washington. "Aber ich wollte auch Jesses Andenken ehren zu dieser besonderen Jahreszeit ..." Heslins Stimme bricht, sein Satz verliert sich im Wind. "Es ist ein schöner Ort", sagt er schließlich noch.
Die National Cathedral ist eine Episkopalkirche, aber die sechstgrößte Kathedrale der Welt dient konfessionsübergreifend als spirituelles Zentrum der USA. Was hier geschieht, geht oft alle an: Das wissen auch die Newtown Foundation und die Newtown Action Alliance, die die Andacht zusammen mit der Kirche organisiert haben. Die Verlagerung nach Washington soll Newtown helfen, zum Jahrestag einer zweiten Medienwelle zu entgehen.
Aber die 700 Menschen, die sich schließlich in dem Kirchenschiff versammeln, wollen nicht nur beten: Sie suchen auch Aufmerksamkeit, erinnern wieder und wieder daran, dass jedes Jahr mehr als 30 000 Menschen in den USA durch Schusswaffen sterben. Und der Kongress hat seit Newtown kaum etwas getan.
Im Gegenteil: Kurz vor dem Jahrestag sei eigens ein Gesetzesvorschlag eingereicht worden, der sämtliche Waffengesetze der Hauptstadt aufheben würde, empört sich die demokratische Delegierte Eleanor Holmes Norton. "Es ist eine Beleidigung meiner Wähler, der Versammelten hier und ja, auch der Familien von Newtown."
Engagement gegen Waffen
Einige von ihnen sitzen auf dem Podium zusammen mit Angehörigen von Opfern anderer Schießereien: Aurora (2012), Washington (2010), New York (1997), um nur einige zu nennen. Einer nach dem anderen zeigt Fotos von Familienmitgliedern, erzählt den Versammelten von seinem Verlust. Viele engagieren sich heute regelmäßig für bessere Kontrollen bei Waffenkäufen, für breiteren Zugang zu psychologischer Hilfe, für Sicherheitsmaßnahmen in Schulgebäuden. Christliche, jüdische und islamische Geistliche sprechen, für Musik sorgen neben Carole King ein Kinderchor und ein Instrumental-Duo, das John Lennons "Imagine" interpretiert - der berühmte Beatle ist am 8. Dezember 1980 selbst einer Kugel zum Opfer gefallen. Viele tragen Grün; Grün und Weiß waren die Farben der Grundschule von Sandy Hook.
Präsident Barack Obama hatte die Prävention weiterer Blutbäder unmittelbar nach dem dortigen Amoklauf zur Chefsache erhoben. Aber selbst die konsequente Überprüfung von Waffenkäufern auf ihre Vorgeschichte ist im Kongress gescheitert, und das, obwohl sich 90 Prozent aller Amerikaner dafür aussprechen.
Nur wenige schärfere Gesetze
Fast jeder Bundesstaat hat seit Newtown neue Waffengesetze verabschiedet. Die "New York Times" kommt in einer Übersicht auf 109 neue Regelungen. 70 davon lockern allerdings Vorschriften, nur 39 haben sie verschärft. Organisationen wie die mächtige Waffenlobby National Rifle Organization (NRA) verbreiten die These, dass nur Waffenbesitzer vor Ort einen Amokschützen schnell genug am Weiterschießen hindern können. Wo Demokraten schärfere Kontrollen durchgesetzt haben, mussten sie das zum Teil teuer bezahlen: Im September wurden in Colorado erstmals in der Geschichte des Bundesstaats zwei Senatoren abberufen, nachdem sie geholfen hatten, strengere Vorschriften durchzusetzen. Die Maßnahmen wurden zwar von breiten Bevölkerungsschichten unterstützt, aber die Kritiker mobilisierten zur Entscheidung weit mehr Wähler. Ein dritter Senator trat selbst zurück.
Die Waffenlobby war lange Zeit weit besser organisiert als ihre Gegner. Viele Initiativen wollen davon nun lernen. "Die Waffengeschäfte haben große Werbeschilder vor ihrer Tür", sagt die pensionierte Anthropologieprofessorin Mary McCutcheon nach der Andacht in Washington. "Warum warten wir nicht vor einem Waffengeschäft und versuchen, darüber zu informieren, dass es tausendfach wahrscheinlicher ist, dass eine Waffe für etwas Böses benutzt wird als zur Selbstverteidigung?"
Einsatz für Betreuungsangebote
Zusammen mit ihrer Freundin Cecile Heatley will sie heute vor dem Hauptquartier der NRA in Fairfield, Virginia, eine Andacht halten. "Inzwischen ist es möglich, Waffen aus einem 3-D-Drucker herauszulassen", sagt sie. "Da frage ich mich, wie viel man durch Gesetzgebung überhaupt noch erreichen kann. Ich denke, die größeren Themen sind Erziehung und ein kultureller Wandel."
Ein Thema, an dem auch die 43-jährige Nardyne Jefferies arbeitet. Ihre 16-jährige Tochter Brishell wurde 2010 in Washington von jungen Männern aus einem fahrenden Kleinbus heraus mit einem Sturmgewehr erschossen. Seither kämpft die Datenbank-Koordinatorin für eine Initiative, mit der sie die psychologische Betreuung und das Sinnangebot an Schulen verbessern möchte. Selbst wenn morgen harsche Verbote in Kraft träten, wäre das Problem für sie nicht gelöst: "Es gibt immer noch sehr viele Waffen in den falschen Händen. Wir müssen positives und selbstreflektiertes Verhalten fördern", sagt Jefferies. "Es ist leider so: Es wird weitere Blutbäder geben."