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Ein „Flüchtlings-Tsunami“ rollt auf die Bollwerke der EU zu

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Afrikas Flüchtlinge brechen auf. Europa versucht verzweifelt, sich gegen einen immer stärker werden Asylbewerber-Strom zu wehren. Doch niemand weiß, wie man die Verzweifelten stoppen kann. Mussie Yohannis hat Wochen gebraucht, ehe er darüber sprechen konnte. Stundenlang trieb er im Mittelmeer, umgeben von Leichen. Ein Fischer holte ihn schließlich am Morgen des 3. Oktober aus dem Wasser vor Lampedusa. 366 andere waren ertrunken. Darunter viele Kinder. Doch die Hölle hatte schon vor dem Untergang des maroden Bootes begonnen. "Sie haben jede Frau, wirklich jede, egal wie alt, vergewaltigt", berichtete der 26-Jährige aus Eritrea schließlich. Einer der Beamten, dem er im Flüchtlingslager diese Geschichte erzählt, wird später sagen: "Ich habe noch nie so etwas Grausames gehört." Was Yohannis widerfuhr, ist kein Einzelfall. Seit vergangener Woche müssen sich Beamte der italienischen und griechischen Marine und Küstenwache wieder ähnliche Erlebnisse anhören. 233 Menschen holte ein römischer Zerstörer am Mittwochabend aus dem Wasser, 85 Flüchtlinge gabelten griechische Grenzschützer in der Ägäis auf. Darunter viele Frauen und Kinder. "Früher ließ der Flüchtlingsstrom in den Wintermonaten nach", berichtete ein EU-Beamter vor Ort. "Inzwischen gibt es keine Pause mehr.""Habe hier keine Zukunft" Nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR befinden sich in Afrika fast vier Millionen Menschen auf der Flucht. Rund 300 000 Menschen verlassen jeden Monat allein Eritrea. "Hoffnungslosigkeit und Menschenrechtsverletzungen treiben die Bewohner aus dem Land", warnt die UN-Sonderbeauftragte für das Land, Sheela B. Keetharuth. In Somalia stellt sich die Lage nicht anders dar. Fast 11 000 Euro verlangen Schlepper für die Reise nach Europa, berichtet Mahdi Gedi (28). Er erreichte das "gelobte Land", lebte in den Niederlanden, wurde ausgewiesen und nach Mogadischu zurückgebracht. "Ich werde es wieder versuchen. Hier habe ich keine Zukunft", sagt er. UN-Mitarbeiter sprechen offen von einem "Tsunami", der an die Bollwerke der EU schwappt. Die bemüht sich mit allen Mitteln, die Grenzen dicht zu halten. Im Dezember startete man das Projekt "Eurosur". Informationen über Standorte von Flüchtlingsbooten sollen nun schneller ausgetauscht, Hilfsmaßnahmen in Fällen von Seenot besser koordiniert werden. Die Staats- und Regierungschefs äußerten beim Gipfeltreffen wenige Tage vor Weihnachten zwar "tiefes Bedauern über die Vorgänge vor Lampedusa". An ihrer Asylpolitik ändern wollen sie aber nichts. Neuer Verteilungsschlüssel? Am 1. Januar trat eine Reform der umstrittenen Dublin-II-Verordnung in Kraft. Dadurch werden zwar die Lebensbedingungen der anerkannten Asylanten verbessert. Auch künftig entscheidet aber der Staat, den der Flüchtling zuerst betritt, über dessen Schicksal. An ein Quotensystem zur besseren Verteilung der Zuwanderer samt Erhöhung der Quoten ist nicht zu denken. Vor wenigen Tagen legte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration Berechnungen vor, wie ein neuer Verteilungsschlüssel aussehen könnte. Damit sind die Ungerechtigkeiten innerhalb der EU erstmals belegt. Folgt man diesen Berechnungen, müsste Deutschland knapp 16 Prozent aller Flüchtlinge aufnehmen - nur knapp 5000 mehr als derzeit. 20 Mitgliedstaaten aber hätten deutlich mehr Asylbewerber zu verkraften als heute - darunter mit Malta und Zypern auch zwei Länder, die schon jetzt ständig jammern, überlastet zu sein. Italien und Griechenland würden dagegen entlastet. Dass das Modell in Brüssel eine ernsthafte Rolle spielen könnte, gilt als ausgeschlossen. "Die letzten Beratungen der Innenminister, aber auch der Staats und Regierungschefs haben gezeigt, dass die Mehrheit am Status quo nichts ändern will", sagte ein hoher EU-Diplomat gegenüber unserer Zeitung. "Trotz mancher Tränen." Lampedusa - "ein Symptom" Tatsächlich fühlt sich das brisante Thema nämlich völlig anders an, wenn man nicht mehr am runden Tisch in geheizten Räumen sitzt, sondern Betroffenen gegenübertritt. Wenige Tage nach der Katastrophe vor Lampedusa stand Kommissionspräsident José Manuel Barroso auf der Mittelmeer-Insel in einer großen Halle vor mehreren hundert Särgen und konnte seine Tränen kaum zurückhalten. Nicht anders erging es Berliner Spitzenpolitikern, die vor einigen Wochen das Flüchtlingscamp am Oranienburger Platz in Berlin besuchten und anhören mussten, wie der 43-jährige Ghanaer Johnson Takyi vom Tod seines Bruders Matin erzählte. Der junge Mann war an Bord des gekenterten Bootes im Mittelmeer. Er ertrank. "Lampedusa ist Symptom einer Krankheit, die in den schlecht regierten Staaten Afrikas wurzelt", analysiert der deutsche Afrika-Experte und frühere Botschafter Volker Seitz. Wenn Europa den Flüchtlingsstrom eindämmen wolle, müsse man den Druck auf die korrupten Regierungen des schwarzen Kontinents erhöhen. "Niemand kann heute sagen, wie der Kontinent mit seinen derzeit fast 1,2 Milliarden Einwohnern im Jahre 2050 rund doppelt so viele Menschen ernähren will." Wie sehr der Druck im Kessel steigt, bekamen die spanischen Grenzschützer im Dezember zu spüren. Spät in der Nacht hatten sich da über 1000 unbewaffnete afrikanische Flüchtlinge aufgemacht, den sechs Meter hohen Grenzzaun zur spanischen Enklave Melilla in Marokko zu überwinden, um dort sicheren Boden zu erreichen. Einheimische und europäische Sicherheitskräfte hatten von dem Plan erfahren und konnten die Verzweifelten abwehren. "Die Wucht wird größer, mit der Flüchtlinge nach Europa drängen", beschrieb anschließend ein hoher deutscher Beamter der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Situation. "Das Asylrecht allein ist kein Instrument, um dieser Situation Herr zu werden." 2013 machten sich schon dreimal so viele Menschen wie im Jahr davor auf die Reise. Der Zusammenbruch vieler staatlicher Strukturen im nördlichen Afrika habe Schlepperorganisationen regelrecht aus dem Boden sprießen lassen, berichten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. "Die betreiben ihr mieses Geschäft wie ein Reisebüro ganz offen, marschieren durch die Flüchtlingslager und suchen zahlungskräftige Kunden, die keine Ahnung haben, was ihnen blüht." Zu den besonders perfiden Auswüchsen dieser Entwicklung gehört offenbar auch, dass die Kriminellen mehrfach an den Opfern zu verdienen versuchen. Die Geschichte von Mussie Yohannis ist typisch dafür. Er floh von Eritrea in den Sudan, musste dort für die Reise nach Europa rund 4200 Euro abgeben. Danach wurde er in ein Lager gebracht und gezwungen, mit seinen Verwandten Kontakt aufzunehmen. Die Schlepper wollten von ihnen Lösegeld erpressen. Erst nachdem die zahlten, konnte der junge Mann weiter Richtung Küste reisen. Christopher Horwood von der Hilfsorganisation Danish Refugee Council in Nairobi: "Die Schlepper sehen Migranten als Handelsware. Sie werden auf jeder Flucht-Etappe gehandelt." Große Herausforderung Obwohl solche Erlebnisse auch in Afrika die Runde machten, würde die Fluchtwelle weitergehen, mutmaßt der Experte. "Sie wollen nur weg, egal, wie hoch der Preis ist." In Brüssel ahnt man, dass die Flüchtlings- und Asylpolitik zu einer der großen Herausforderungen dieses Jahres werden könnte. Doch Initiativen oder weitergehende Konzepte gibt es bisher nicht. "Das Asylrecht bleibt, wie es ist", heißt es aus der Europäischen Kommission. Ob dies allerdings reicht, um zu verhindern, dass sich ein ganzer Kontinent aufmacht, um Elend, Not und Tod zu entfliehen?

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