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Suchtfalle Alter – wenn nur noch Tabletten und Alkohol „helfen“

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Darüber zu sprechen, ist eigentlich ein Tabu. Aber gerade im Alter steigt das Risiko, süchtig zu werden. Drei Senioren erzählen von ihrer Gier nach Tabletten und Alkohol. Kurz nach Elisabeth Müllers (Name geändert) 75. Geburtstag ist er plötzlich da. Ein stechender Schmerz in der Magen-Darm-Gegend. Immer zur gleichen Uhrzeit. Abends, gegen 18 Uhr. Immer dann, wenn sie mal keine Tablette nimmt. Die Seniorin blickt sehnsüchtig zur Pillendose. Ihr ganzer Körper giert nach dem Lorazepam in den Tabletten. Nach dem Wirkstoff, der ihren seelischen Schmerz erträglich macht. Und der ihr körperliche Entzugserscheinungen verursacht. Seit Jahren greift Müller zu Benzodiazepinen, angstlösenden Mitteln. Unscheinbaren Helferlein gegen ihre Panikattacken. Gegen das beklemmende Gefühl in ihrem Körper, das ihr die Kehle zuschnürt. Die Tabletten geben Müller Kraft, als ihre Eltern gepflegt werden müssen. Und später, als die Schwiegermutter alleine nicht mehr zurechtkommt. Jeden schweren Moment bekämpft die Rentnerin mit einer Tablette. Bis sie abhängig wird. Bis alles in ihr nach der nächsten Tablette schreit - so lange, bis es wehtut. Und die Seniorin wieder zur Pillendose greift. Acht Jahre später schmerzt Müllers Körper immer noch, sobald die Lorazepam-Reserven aufgebraucht sind. Auch die Panikattacken sind geblieben. Aber heute weiß die 83-Jährige: "Ich bin süchtig". Müller sitzt auf einem Stuhl in ihrem Einzelzimmer im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (PZN) in Wiesloch. Es ist ihr sechster Entzug. Die 83-Jährige ist seit acht Wochen in der Klinik. "Ich habe meine Maske verloren, die allen immer gezeigt hat, dass es mir gut geht", sagt sie. Viele Frauen setzen ab 60 eine "Pillen-Maske" auf. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts nehmen 5,2 Prozent der deutschen Frauen (3,4 Prozent der Männer) psychotrope Medikamente - Mittel, die auf die Psyche wirken - ein. Dazu zählen opioidhaltige Schmerzmittel und Benzodiazepine, umgangssprachlich "Benzos" genannt. Der Anteil der über 60-jährigen Frauen liegt bei 11,5 Prozent. "Mit den Tabletten habe ich immer gut funktioniert. Ich konnte ein normales Leben führen", sagt Müller und faltet die Hände im Schoß zusammen. Vor ihr auf dem Tisch steht ein gerahmtes Bild. "Das sind meine Kinder." Ein Mann und eine Frau Ende 40 schauen in die Kamera. Die Rentnerin im schwarzen Rollkragenpullover lächelt gequält. Fünf Rückfälle "Meine Tochter lebt in den USA. Ohne die Pillen hätte ich nie ein Flugzeug betreten und sie besuchen können", sagt Müller. Aber irgendwann habe eine Tablette nicht mehr gereicht. "Ich habe meine Dosis so lange gesteigert, bis die Ärzte gemerkt haben, dass ich täglich 4,5 Milligramm geschluckt habe." Müller kommt daraufhin in eine Entzugsklinik und schafft es, "clean" zu werden. Wieder zu Hause, wird sie rückfällig. Fünfmal innerhalb weniger Jahre. Zu stark sind der Gedanke an das Medikament und die Sehnsucht nach einem Leben ohne Angst. Ohne Panik. "Bis auf den Phantomschmerz habe ich ja auch sonst keine Beschwerden", sagt die 83-Jährige. Rein körperlich gehe es ihr wohl besser als den meisten anderen 80-Jährigen. Aber: "Die Medikamentenabhängigkeit ist ein ernstzunehmendes Problem", sagt Jochen Gebhardt, Chefarzt am Gerontopsychiatrischen Zentrum in Wiesloch. Die Langzeitfolgen im Alter seien beträchtlich. Die Verstoffwechslung der Medikamente verlaufe nicht mehr so reibungslos wie bei einem jungen Körper. "Dadurch kommt es zu einer Anhäufung von Medikamenten und Giftstoffen im Körper - selbst wenn die Dosis nicht erhöht wird", erklärt der behandelnde Arzt von Elisabeth Müller. Außerdem würden durch die Tabletten die Konzentrations- und Gedächtnisleistung vermindert, so der Experte. Auch Werner Meier (Name von der Redaktion geändert) weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Sucht den Körper anfrisst. Jahrelang schüttet er literweise Bier und Wein in sich hinein. Sein Geist ist unter einer Käseglocke gefangen, die Zähne fallen ihm aus. Heute ist der 70-Jährige trocken. Seit acht Jahren hat er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Seinen richtigen Namen will er trotzdem nicht in der Zeitung lesen. Nicht bei so einem Thema. Mannheim, Multifunktionsraum der Caritas-Suchtberatungsstelle. Meier will an einem neutralen Ort über seine Sucht sprechen. Nervös setzt sich der 70-Jährige auf einen Holzstuhl. Er fängt an zu erzählen, spricht schnell, verhaspelt sich. Seine Geschichte beginnt mit ein, zwei Bier in der Woche. Auf Festen trinkt er auch mal mehr, aber der Alkohol ist damals kein fester Bestandteil seines Lebens. Bis der Tod seiner Mutter und Probleme in der Familie ihn zermürben. Bis das Einzige, das scheinbar hilft, der Alkohol ist. Als er mit 62 Jahren in die passive Altersteilzeit eintritt, fängt Meier an, auch bei der Arbeit zu trinken. Denn im Geschäft gibt es immer weniger für ihn zu tun. Mit Bier bekämpft der IT-Experte die Langeweile. Manchmal auch mit Cognac. Niemand bemerkt etwas. Außer seiner Frau. Und die schweigt, schließlich naht die Rente. "Ich dachte mir: Da wird alles besser, ich werde dann weniger trinken", blickt Meier zurück. Aber die Sucht ist zu stark. So stark, dass seine Frau ihre Sachen packt und ihm ein Ultimatum stellt: Er hat die Wahl zwischen der Scheidung und einem Entzug. Meier entscheidet sich für den Entzug. Einige Wochen später sitzt Monika Meier (Name von der Redaktion geändert) im Mannheimer Multifunktionsraum. Sie erzählt die Geschichte ihres Mannes erneut - aus ihrer Perspektive. Sie berichtet von ihrer Wut und ihrer Hilflosigkeit. Davon, wie die Kinder von ihrem Mann abgerückt seien. Von ihrer Angst, ihm die Enkel anzuvertrauen. Und der Furcht vor seinem nächsten Rausch. Vor dem Moment, in dem er wieder dösend auf dem Balkon sitzt. "Ich hatte meinen Mann verloren", sagt die 70-Jährige und kneift ihre Lippen zusammen. Erhöhte Risiken "Die Alkoholsucht im Alter ist oft ein mitgeschlepptes Problem aus dem jüngeren und mittleren Erwachsenenalter", sagt Lutz Frölich, Leiter der Gerontopsychiatrie am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI). Vor allem bei Männern. Laut der Studie des Robert-Koch-Instituts konsumieren 34,4 Prozent der Männer und 18 Prozent der Frauen zwischen 65 und 79 Jahren Alkohol in "riskanter Weise". Und die gesundheitlichen Risiken steigen mit jedem Schluck. "Man sollte nicht nur die klassische Vorstellung haben, dass bloß die Leber geschädigt wird", sagt der Mannheimer Mediziner. Suchtexperten warnen vor erhöhten Krebsraten, der Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einem höheren Risiko für neurologische Erkrankungen. Nicht alle Alkoholiker trinken schon seit Jahrzehnten. Einige beginnen erst im Rentenalter damit. Wie Helmut Peters (Name geändert). Er parkt seinen Mercedes hinter der Mannheimer Suchtberatungsstelle. Der 76-Jährige hat einen festen Händedruck. Er ist ein Mann, der gerne Anweisungen gibt. Privat und geschäftlich - bis seine Abteilung geschlossen wird. Peters muss in den Vorruhestand. Zunächst genießt er seine Freizeit. Er hilft seinem Sohn beim Renovieren und verbringt Zeit im Garten. Doch dann fällt der 76-Jährige in ein tiefes Loch. Der Rentner fühlt sich "einfach so ausgespuckt" von seiner Firma. Nach 39 Jahren im Unternehmen. Er ertränkt seinen Kummer in eineinhalb Flaschen Schnaps und einer Flasche Wein täglich. Jahrelang. Bis sein Sohn das nicht mehr mit ansehen kann. Vor einem Jahr bringt er Peters in eine Suchtklinik. "Der Entzug war grausam. Ich wollte sterben", erinnert sich der Senior heute. Peters kann nicht schlafen, der Schweiß rinnt an seiner Stirn herab. Das will er nie wieder erleben. Hat er bislang auch nicht. Helmut Peters ist seit dem 12. Februar 2013 trocken. Mangel an Angeboten Elisabeth Müller hat lange Zeit den Ärzten die Schuld gegeben, weil sie ihr die Medikamente überhaupt erst verschrieben haben. "Ältere Frauen fühlen sich oft ängstlich, haben Schlafstörungen, werden depressiv", sagt Gebhardt. Ursachen seien biologische Veränderungen des Gehirns oder körperliche Schmerzen. Aber auch die Einsamkeit. "Die Ärzte verschreiben dann die Tabletten. Sie sind ein gutes Krisenmedikament, wenn man es über einen kurzen Zeitraum einnimmt", sagt der Mediziner. Auf lange Sicht sei aber wichtig, dass man den Ursachen der Depression auf den Grund gehe. "Die psychotherapeutischen Möglichkeiten, diese Zustände zu behandeln, werden im Alter aber oft unterschätzt", sagt Gebhardt. Es fehle an Angeboten. Und: Viele ältere Menschen scheuen den Besuch beim Psychotherapeuten. Elisabeth Müller hat diesen Schritt nun gewagt. Auf ihrem Nachttisch liegt Albertine Sarrazins Roman "Astragalus". Ein Buch über eine intelligente und furchtlose Frau. Eine, die aus ihrem Gefängnis ausbricht. Elisabeth Müller hat seit zwei Wochen keine Tablette mehr eingenommen.

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