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Ein Papst, der berührt und verstört

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Vor einem Jahr wurde Franziskus Papst. Seither hat sich der Blick auf die katholische Kirche verändert. Selbst Skeptiker geben zu, dass der Papst sie nicht unberührt lässt. Doch es gibt Kritiker, vor allem in der Kurie. Am Abend des 13. März 2013 saß Monsignore Gianrico Ruzza vor dem Fernseher. Er sah, wie der neue Papst auf den Mittelbalkon des Petersdoms heraustrat. Ungläubig und scheu wirkte Franziskus in diesen ersten Momenten seines Pontifikats. Den wenigsten war der argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio zuvor ein Begriff gewesen. Dann sagte Franziskus fünf Worte auf Italienisch. "Brüder und Schwestern, guten Abend". Ruzza, ein Mann von rascher Zunge und mit Verstand, ahnte in diesem Moment, dass bald nichts mehr sein würde wie zuvor. Zu diesem Gefühl hatte beigetragen, dass Ruzzas römische Pfarrei San Roberto Stellarmino die Titelkirche des ehemaligen Kardinals da oben auf dem Balkon der Petersbasilika war. Ruzza hatte Bergoglio zwar nie kennengelernt. Aber dem Monsignore war früher als den meisten anderen das eiserne Brustkreuz des neuen Papstes aufgefallen. Klerikern, die von ihren Vorgesetzten viel Gold und Spitzen gewohnt sind, fallen solche Kleinigkeiten auf. Ruzza war sich sicher: "Die Welt hat sich geändert." Dieses Urteil wirkt natürlich etwas übertrieben. Aber Padre Ruzza ist Römer und hat damit einen natürlichen Hang zur Emphase. Zudem scheint es so, als habe sich vielleicht nicht die Welt, aber doch der kleine Kosmos dieses Pfarrers geändert, seit der Papst Franziskus heißt. Tränen in den Augen Auch ein Jahr nach der Wahl Bergoglios zum Papst kommen mehr Menschen zu den Gottesdiensten in die Backsteinkirche im Nobelviertel Parioli, sagt Ruzza, der im Pfarramt an einem kleinen Schreibtisch sitzt. Mehr Gläubige gingen zur Beichte. Zwei Dinge treiben dem Monsignore heute die Tränen in die Augen: "Menschen, die nach Jahren der Abwesenheit jetzt wieder in die Kirche kommen." Und Skeptiker, die ihm gestehen, dass Franziskus auch sie nicht unberührt lässt. "Das bewegt mich wirklich", sagt der Pfarrer. Dieser Papst, der nun ein Jahr im Amt ist, hat eine beinahe unheimliche Anziehungskraft. Der Petersplatz ist wieder gerammelt voll bei den sonntäglichen Angelus-Gebeten und den Generalaudienzen, bei denen Bergoglio sein Bad in der Menge sichtlich genießt. Der Franziskus-Effekt ist überall zu spüren. In vielen Bars der Stadt hängen große Konterfeis des Argentiniers. Der Mondadori-Verlag hat zum Jahrestag ein Fan-Magazin herausgebracht. "Il mio Papa" ("Mein Papst") erscheint wöchentlich auf 68 Seiten mit einem herauslösbaren Franziskus-Poster. Der "Rolling Stone" und das "Time"-Magazin hoben Bergoglio auf ihre Titelseiten. "Es berührt mich" Selbst die fliegenden Händler in Vatikannähe, die stets vor den Polizisten auf der Flucht sind, fühlen sich irgendwie sicherer, seit Franziskus da ist. So erzählt es zumindest Carlos Sanchez Alvarez. "Sie jagen uns weniger", sagt er. Sanchez verkauft handgemachte Tierfiguren aus Peru. Im Hintergrund thront die Kuppel des Petersdoms. Sanchez ist 55 Jahre alt, lebt seit 20 Jahren in Italien und hätte gern einen anderen Job, als Terrakotta-Eulen für drei Euro zu verkaufen und stets auf der Flucht zu leben. Aber schon zweimal verlor er seine Arbeit, und jetzt fühlt er sich zu alt, um irgendwo neu anzufangen. Dass im Vatikan nun ein Südamerikaner sitzt, freut ihn. "Das ist ein bisschen, wie Familie hier zu haben", sagt er. Sanchez ist katholisch, aber ein "schlafender Katholik", wie er sagt. Franziskus hat ihn wieder geweckt. Da sei nun jemand, der wirklich auf der Seite der Armen stehe und sich gegen die Mächtigen und den Luxus wehre. "Es berührt mich, wenn er sagt: Habt keine Angst vor Zärtlichkeit." Sanchez schluckt. Auch das ist ein Zeichen. Gestandene Männer können, wenn sie von Franziskus reden, plötzlich sehr zerbrechlich wirken. Sanchez erwartet nicht, dass sich die Dinge mit Franziskus wirklich ändern werden, dass sein Leben künftig auf sicheren Bahnen verlaufen wird. "Aber Franziskus gibt mir Hoffnung. Das ist alles." Vielleicht wird er dem Papst einen Brief schreiben. Man weiß, dass Franziskus solche Dinge liest. Er wohnt nicht abgeschirmt wie sein Vorgänger im Apostolischen Palast, sondern im belebten vatikanischen Gästehaus Santa Marta. Die wenigen, die früher direkten Zugang zu ihm hatten, bleiben nun oft außen vor. Aber nicht, weil Franziskus sie nicht sehen will, sondern weil sie ihren exklusiven Einfluss im Meer der Menschen um ihn verloren haben. Niemand wagt, Franziskus offen zu kritisieren, aber viele in der Kurie sind von einer gewissen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit erfasst. "Man weiß nicht genau, wo der Kurs hingeht", sagt ein Prälat, der in unmittelbarer Nähe zu Franziskus im Vatikan lebt. Er will anonym bleiben, wie fast alle, die den Papst aus dem Vatikan heraus immer noch mit Neugier, Sympathie, aber eben auch mit vielen Fragen beobachten. Vielen ein Rätsel Man könne die katholische Kirche nicht aus dem Bauch heraus steuern, der Papst gebe zu viele Interviews, sei unreflektiert und demontiere mit seinem Pauperismus das Papsttum. So lautet die Kritik an Bergoglio. "Wir leben in Ankündigungen und Gesten, aber grundlegend gibt es noch keine Neuerungen", sagt ein anderer einflussreicher Würdenträger. Die erste Reise auf die immer wieder von Flüchtlingen angesteuerte Mittelmeer-Insel Lampedusa? "Ein Schlag ins Wasser!" Konkret sei nichts passiert. Auch in der Kurie nicht, sieht man von einigen Personalentscheidungen und neu eingesetzten Kommissionen ab. Dogmatisch ist Franziskus vielen ein Rätsel. Manche haben den Verdacht, in Rom gebe nun ein theologischer Dilettant mit Hang zum Marxismus den Ton an. Sein einziges Programm: "Barmherzigkeit". "Er ist sich selbst die größte Gefahr", behaupten Mitarbeiter, die fürchten, der Hype werde bald einer Katerstimmung Platz machen. Und zwar dann, wenn sich zeige, dass die vielen vom Papst geweckten Erwartungen nicht erfüllt werden können. "Wie frisches Wasser""Ich denke nicht, dass der Papst die Doktrin ändert", sagte der als liberal geltende Kardinal Seán O'Malley, Erzbischof von Boston, der zum engen Beraterkreis Bergoglios gehört. Eine Öffnung der katholischen Kirche bei den Themen Empfängnisverhütung, Abtreibung oder Homo-Ehe sei nicht zu erwarten. "Das Schiff schaukelt, aber es sinkt noch nicht", sagt ein anderer, um den Kurs der katholischen Kirche sichtlich besorgter Kardinal. Monsignore Gianrico Ruzza steht der Kritik gelassen gegenüber. "Ärgere dich nicht, morgen wird sich die Welt ohne dich weiter drehen", steht auf einem Schild, das im Büro des Paters an der Wand hängt. Jeden Morgen sucht er im Internet den Text der Morgen-Andacht, die Franziskus um 7 Uhr in der Hauskapelle von Santa Marta hält. Ruzza sagt: "Für mich ist das wie frisches Wasser aus der Quelle."

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