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Handicap inklusive: Freunde streben aufs Gymnasium

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Kann ein Gymnasium drei behinderten Kindern die Aufnahme verweigern? Seit ein Kollegium in Walldorf für die Abweisung stimmte, wird überregional über inklusiven Unterricht diskutiert. Die drei Kinder haben die Grundschulzeit miteinander erlebt, der elf Jahre alte Henri, der mit Down-Syndrom auf die Welt kam, und das zwei Jahre jüngere Mädchen, das eine schwere Hör- und Sehbehinderung hat, kennen sich sogar aus dem integrativen katholischen Kindergarten. Mit dem zweiten Junge (10), der an Mukoviszidose leidet, sollen sie nun aufs Gymnasium in Walldorf (Rhein-Neckar-Kreis) wechseln. Doch während die Anmeldung für Eltern gesunder Kinder eine Formalität ist, müssen die Väter und Mütter der drei Grundschüler mit Handicap bangen: Die Gesamtlehrer-Konferenz des Gymnasiums hat beschlossen, das Trio abzuweisen - obwohl das Schulamt Mannheim die Einrichtung einer Gruppeninklusion dort vorgesehen hat. Es wäre das erste baden-württembergische Gymnasium, das eine Gruppe behinderter Kinder inklusiv unterrichtet. Schon bei der Einschulung vor vier Jahren hatten die Eltern zu kämpfen, erzählt Henris Mutter Kirsten Ehrhardt. "Wir müssen unsere Kinder jedes Mal wie Sauerbier anbieten", sagt sie traurig. Eine zweite Mutter ist selbst Lehrerin an dem Walldorfer Gymnasium - sie darf sich als Beamtin nicht öffentlich äußern. In der Grundschule konnten Eltern entscheiden, ob ihre Kinder die geplante inklusive Klasse besuchen sollten oder nicht", erinnert sich Ehrhardt. "Es gab mehr Anmeldungen für diese Klasse als berücksichtigt werden konnten", fügt ihr Mann Norbert Hirt hinzu. Vier Jahre später wissen die Eltern Erfahrung und die Unterstützung der Grundschullehrer hinter sich. Befürchtungen, dass die gesunden Kinder zu kurz kommen könnten, wurden widerlegt - eine überragende Mehrheit der Mädchen und Jungen hat eine Gymnasialempfehlung erhalten. Keine Begründung bekannt Wie die anderen angehenden Fünftklässler hat Henri seine Wunsch-Schule - sie liegt neben der Grundschule - schon besichtigt: beim Tag der offenen Tür. Stolz führte Henris ältere Schwester, die hier die 9. Klasse besucht, den "Kleinen" durch die Räume. Offiziell weiß die Familie noch nicht, dass sich die rund 80 Mitglieder der Gesamtlehrerkonferenz mehrheitlich gegen die Aufnahme der drei behinderten Kinder ausgesprochen haben. Begründungen kennen die Eltern ebenfalls nicht. Dass ein körperbehindertes Kind eine weiterführende Schule besucht, ist landauf, landab nicht selten. Aber bei Kindern, die so stark eingeschränkt sind, dass sie kontinuierlich von einem Sonderpädagogen unterstützt werden müssen und bei solchen mit geistiger Behinderung fällt die Vorstellung des inklusiven Unterrichts vielen schwer. Von Schulart zu Schulart scheint die Akzeptanz zu schwanken: Während inklusive Klassen an Grund-, Hauptschulen regelmäßig und vereinzelt auch an Realschulen und in Gemeinschaftsschulen eingerichtet werden, wäre das Walldorfer Gymnasium das erste in Baden-Württemberg, das diesen Schulversuch wagt. Das Schulamt Mannheim, zuständig für das Thema Inklusion an Schulen, unterstützt. Auch die Stadt Walldorf hat die aus ihrer Sicht nötigen Schritte unternommen: Für einen Extra-Raum, in dem die Inklusionskinder getrennt vom Klassenverband betreut werden können, ist gesorgt. Zudem würde die Comeniusschule Schwetzingen einen Sonderpädagogen freistellen, der die Kinder 26 Wochenstunden betreuen würde. Dass alle drei Kinder diesen Bedarf an zusätzlicher Betreuung haben, weist ein Gutachten aus. Die Kritik der Elternvertreter macht sich unter anderem an organisatorischen Fragen fest, etwa am Klassenteiler. Denn die "Inklusions-Kinder" werden darin nicht berücksichtigt. Eine fünfte Gymnasialklasse umfasst in der Regel 30 Kinder - mit den Inklusions-Kindern säßen 33 Schüler in dem Klassenzimmer, plus Lehrkraft, plus Sonderpädagoge plus eventuell einer Assistenzkraft. "Das ist ein berechtigter Einwand", zeigen Henris Eltern Verständnis. Sie würden sich ebenfalls wünschen, dass der Klassenteiler beim inklusiven Unterricht kleiner ist. Das sei bei einem Schulversuch rechtlich möglich. Umfeld wichtig Den Eltern geht es nicht allein darum, dass die zwei Jungen und das Mädchen im vertrauten Trio den nächsten Lebensabschnitt antreten - das gesamte Umfeld ist ihnen wichtig. "Viele ihrer Freunde wechseln in das Walldorfer Gymnasium - das möchten wir unseren Kindern auch ermöglichen", betont Kirsten Ehrhardt. "Es sind die Kinder hier aus dem Wohngebiet, aus der Stadt, die diese Schule besuchen." Daher wäre es für die Betroffenen auch keine Option, wenn sich ein anderes Gymnasium als Alternative anböte und Türen und Arme öffnen würde. Henri sollte von Anfang an keinen Sonderschulweg beschreiten müssen. "Ihn morgens in einen Bus steigen zu lassen, der ihn zu einer weit entfernten Schule bringt und abends zurück, das wollten wir nicht", erzählen sie. "Natürlich wissen wir, dass Henri kein Abitur machen wird, keinen Realschul- und wohl auch keinen Hauptschulabschluss. Aber er soll nach seinen Fähigkeiten und im normalen Umfeld gefördert und gefordert werden." Für Marianne Falkner, Rektorin des Walldorfer Gymnasiums, der 160 Anmeldungen für maximal fünf Klassen vorliegen, ist das letzte Wort nicht gesprochen. "Die Schule sieht Probleme in der Inklusion von Kindern, die aufgrund von geistigen Einschränkungen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Möglichkeiten haben, unser Bildungsziel zu erreichen", fasst sie zusammen. Inklusion, das bedeute für sie eher, "im Einzelfall und dem Kindswohl gemäß" entscheiden zu können. Uwe Herzel, Sprecher des für die Gymnasien zuständigen Regierungspräsidiums Karlsruhe, verweist auf das Kultusministerium in Stuttgart. "Wir können aber festhalten, dass das Regierungspräsidium sicherlich eine große Bereitschaft hat, sonderpädagogische Fachkompetenz zur Verfügung zu stellen", betont Herzel. Die Eltern aus Walldorf haben vor über einem Jahr ihren Bedarf angemeldet. Am 1. April diskutieren die Elternbeiräte des Gymnasiums weiter. Und nächste Woche wollen Vertreter des Kultusministeriums vor Ort die Ängste und Sorgen ansprechen.

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