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Zwei Heilige mehr für die katholische Kirche

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In einem Aktenschrank in Rom lagern Tausende Berichte über Heilungen durch Johannes Paul II. Darunter ist auch die Geschichte der Bandscheibe von Gianni Vecchio. In seinem Büro im dritten Stock des Lateranpalastes wäre es für Monsignor Slawomir Oder eigentlich ein Leichtes, über den Dingen zu stehen. Die Konterfeis mehrerer mild lächelnder Päpste hängen an den Wänden. Der Blick aus dem Fenster geht über die gesamte Stadt am Kolosseum vorbei bis hinüber zum Petersdom, dessen Kuppel im römischen Smog zu erahnen ist. Aber für weite Blicke und Transzendenz hat Monsignor jetzt keine Zeit mehr. Die beiden Mobiltelefone, die er auf seinem Schreibtisch aufgereiht hat, klingeln ohne Unterlass. Vor ihm stapeln sich Mappen mit Ticket-Anfragen für das bevorstehende Großereignis. "Das Volk Gottes", wie Oder die Hunderttausenden nennt, die morgen auf dem Petersplatz dabei sein wollen, kennt keine Gnade. Hat Oder einen Anrufer abgewimmelt, stützt er den Kopf in beide Hände und reibt sich die Augen. "Wo waren wir noch mal stehen geblieben?", fragt er. Wunder und ihre Folgen können sehr anstrengend sein. Slawomir Oder, 53, ist der Postulator im Prozess der Heiligsprechung von Papst Johannes Paul II. Das heißt, er hat das kirchliche Verfahren im Vatikan, das sein polnischer Landsmann auf dem Weg zur Heiligkeit durchlaufen musste, geleitet. Diesen Sonntag werden Oders jahrelange Mühen ihrem endgültigen Sinn zugeführt, wenn Papst Franziskus Karol Wojtyla und mit ihm auch Angelo Giuseppe Roncalli, den früheren Papst Johannes XXIII., heiligspricht. Die katholische Kirche hat dann zwei Heilige mehr und Monsignor Oder einen Job weniger. "Keine Sorge", sagt er, "ich habe weiter gut zu tun." Ab Montag wird er sich wieder seinen Aufgaben als Richter am römischen Kirchengericht widmen und nicht mehr diesen unfassbaren Kriterien der Heiligkeit wie der "heroischen Ausübung von Tugenden" oder eben Wundern. Doch wer so denkt, befindet sich schon auf einem Irrweg. Wunder - Monsignor spricht lieber von "Gnadenakten" - können außerordentlich konkret sein. Davon zeugt ein mannhohes Regal im Arbeitszimmer von Oders Mitarbeiterin, in dem Dutzende rote Aktenordner aufgereiht sind. Michèle Smits hat hier 4000 Briefe abgeheftet, in denen Menschen von Wunderheilungen berichten, die Johannes Paul II. nach seinem Tod am 2. April 2005 bewirkt haben soll. "Gestern kam eine Heilung aus Mexiko, vorgestern eine aus Litauen, hier ist eine aus Rom", sagt Signora Smits und zieht mit einem gewinnenden Lächeln die jüngsten Mirakel aus einer Schublade ihres Schreibtischs. Unter den unzähligen wundersamen Dokumenten finden sich auch die Zeugnisse der französischen Ordensschwester Marie Simon-Pierre, deren Parkinson-Erkrankung der nur wenige Wochen zuvor gestorbene Wojtyla geheilt haben soll. Diese Heilung erkannte der Vatikan in einem komplexen Verfahren als offizielles Wunder für die Seligsprechung am 1. Mai 2011 an. Wie immer in diesen Fällen hatte auch eine Kommission von Ärzten die wissenschaftliche Unerklärbarkeit der Heilung bestätigt. Außerdem lagert hier der Bericht der fünffachen Mutter Floribeth Mora Diaz aus Costa Rica, deren lebensgefährliches Blutgerinnsel im Hirn just am Tag der Seligsprechung verschwand - "durch Seine Hand". "Ihre Geschichte war vielversprechend", sagt Oder, der das Wunder aus Lateinamerika für die Heiligsprechung auswählte. Auch die Instanzen bestätigten das Unerklärliche: Ärzte, Theologen, die Kardinäle der Kongregation für die Heiligsprechung - und der Papst. Und dann ist da noch der Bericht über die Bandscheibe von Giovanni Vecchio, den in der Via Pallante in Rom alle nur Gianni nennen. In seinem überschaubaren Männer-Friseur-Salon hütet der Barbier seine unglaubliche Geschichte, die er alle paar Haarschnitte zum Besten gibt. Bei Vecchio im Salon stapeln sich Bücher, alte Föhns, Rasiermesser, Heiligenbildchen. Im hinteren Teil hat er auch ein paar Pin-ups aufgehängt, gleich neben dem Heiligen Franziskus von Assisi. Aber ehe der 65 Jahre alte Lebemann von seinem Wunder erzählt, zieht er erst noch einen weißen Ausweis aus dem Geldbeutel, auf dem ein roter Hammer, eine rote Sichel und ein roter Stern zu sehen sind. Vecchio ist Mitglied der kommunistischen Partei Italiens, ein für seine Geschichte nicht unerhebliches Detail. Der Ausweis trägt die Nummer 496 145, Sektion Sankt Georgen im Schwarzwald. Vecchio war 1962 nach Deutschland emigriert und schnitt über ein Jahrzehnt lang im Schwarzwald die Haare. 1975 kehrte er nach Rom zurück, kurz darauf verlief sich erstmals dieser polnische Priester in seine Frisierstube, die sich damals noch in Vatikannähe befand. Der Priester und sein Barbier verstanden sich so gut, dass Vecchio bei einem der nächsten Besuche gestand, nicht nur Kommunist, sondern auch Atheist zu sein und für die Kirche wenig übrig zu haben. "Sie sind trotzdem ein anständiger Mensch, ich sehe das an Ihren Augen", antwortete der polnische Priester, der wenig später, am 16. Oktober 1978 zum Papst gewählt werden sollte. Als Vecchio den polnischen Akzent in den ersten, von der Loggia des Petersdoms gesprochenen Worten Johannes Paul II. vernahm, dachte er: "Den kenne ich doch!" Dann sagt Vecchio einen dieser Sätze, die ihn möglicherweise schon früh um seine Chancen als offiziell von Wojtyla Geheilter gebracht haben: "Er war wirklich ein schöner Mann. Ich bin mir sicher, dass er früher auch ein paar Frauen gehabt hat." Dann erzählt er die Geschichte zu Ende: Im Sommer 2009 spürt er erstmals diesen stechenden Schmerz im Rücken. Die Ärzte diagnostizieren einen Bandscheibenvorfall. Vecchio kann vor lauter Schmerz nicht mehr arbeiten, seine Existenz ist bedroht. "Wir müssen operieren", sagt die zuständige Ärztin. Vecchio macht sich auf ins Krankenhaus, beim Betreten des Gebäudes sieht er ein Foto seines Papstes an der Wand. "Er wird Dir beistehen", sagt eine indische Krankenschwester, der der Friseur von seinen Begegnungen mit Wojtyla erzählt. "Ciao Papst, denk an mich!", sagt Vecchio. Kurz darauf ist der Barbier geheilt. Bandscheibe ohne OP wieder okay Die Ärztin betritt Vecchios Zimmer, zieht ein Röntgenbild hervor und sagt, sie könne keinen Schaden mehr erkennen: "Haben Sie noch Schmerzen?" Vecchio steht auf, zieht sein linkes Knie problemlos bis ans Kinn. "Nein", sagt er. Bis heute hat er keine Schmerzen. "Ich glaube nicht an Wunder, aber irgendetwas ist geschehen", dachte Vecchio damals. Kurz darauf, Vecchio übernachtete bei seiner Freundin, widerfuhr ihm erneut Unerklärliches. "Um halb fünf Uhr morgens spüre ich, wie Johannes Paul II. meine Hand nimmt", erzählt er mit tiefem Ernst. Der Papst habe ihn an den Computer seiner Freundin geführt, er habe die Homepage der Seligsprechung aufgerufen und seinen Zeugenbericht in die Maske eingetippt. "Wie früher im Salon stand er im einfachen Priesteranzug neben mir und wies mich an. Es war kein Traum." Auch Monsignor Oder, der Herr über alle Wojtyla-Mirakel, kennt das Wunder des Figaro, das den strengen Regeln des Selig- und Heiligsprechungsprozesses nicht standhalten konnte. Gianni Vecchio ist auch ohne die offizielle Anerkennung seines Wunders ein zufriedener Mann. "Ich spüre seine Anwesenheit", sagt er über seinen Papst, der ihm in regelmäßigen Abständen Zeichen schickt. Ein vom Regen durchnässtes Wojtyla-Foto vor der Bar, einen Johannes-Paul-II.-Magneten an einem auf der Straße abgestellten Kühlschrank. Vecchio hat dann das Gefühl, dass alles, was er tut, einen Sinn hat. Morgen wird er nicht zur Heiligsprechung auf den Petersplatz gehen. Denn er ist sich sicher: Wojtyla ist bei ihm.

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