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„Wir verschließen die Augen nicht“

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Sindolsheim. Die Verlegung sogenannter Stolpersteine am Donnerstagnachmittag war ein historisches Ereignis für Sindolsheim. Die Verlegung der Stolpersteine sind ein landes- und europaweites Projekt des Kölner Künstler Gunter Demnig, der damit den Ermordeten der Nazis ihre Identität und Würde zurückgeben möchte. Würde zurückgeben Mit diesen namentlichen Gedenktafeln, meist für frühere jüdische Mitbürger, soll in Gehwegen am jeweils letzten frei gewählten Wohnort an die Schicksale derjenigen erinnert werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus gedemütigt, verfolgt, deportiert, vertrieben und ermordet beziehungsweise in den Suizid getrieben wurden. In Sindolsheim erinnern die Steine an sieben jüdische Mitbürger - drei in der Kirnautalstraße, zwei in der Lammstraße und jeweils einen Bürger in der Markt- und Bofsheimer Straße. Hierzu waren Landrat Dr. Achim Brötel, Reinhart Lochmann, Heimatforscher und Fachmann für die jüdische Geschichte im Neckar-Odenwald-Kreis sowie der Zeitzeuge der nationalsozialistischen Judenverfolgung, Paul Niedermann, nach Sindolsheim gekommen. In seinem kurzen Abriss im evangelischen Gemeindehaus sagte der stellvertretende Ortsvorsteher Jürgen Fuchs: "Am Morgen des 22. Oktober 1940 erschienen Polizisten und Gastapoleute an den Wohnungstüren der jüdischen Bevölkerung und forderten die Menschen auf, innerhalb einer Stunde ihre Koffer zu packen. Die Juden wurden zu Sammelstellen gebracht und kurz darauf begann eine dreitätige Zugfahrt ins Ungewisse, die in Gurs, einem Internierungslager in Südfrankreich endete." Für die meisten sei die "Hölle von Gurs" die Zwischenstation in auf dem Weg nach Auschwitz und andere Lager im Osten gewesen, in denen sie ermordet wurden, so Fuchs. "Das Grauen begann also nicht erst in Gurs, Dachau oder Auschwitz, sondern es begann hier in der Nachbarschaft, in diesen Häusern, vor diesen Türen, wo wir die Steine verlegen wollen", so Fuchs. Er zitierte Richard von Weizsäckers Aussage: "Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Zukunft". Jürgen Fuchs abschließend: "Wir in Sindolsheim verschließen unsere Augen nicht vor der Vergangenheit. Ich glaube, dass wir mit der Verlegung der Stolpersteine einen Schritt in die richtige Richtung gehen". "Else Heimberger, Klara Rotschild, geborene Hecht, Jettchen Niedermann, Jette Schorsch, Sannchen Schorsch, Johanna Niedermann und Viktor Hecht - sieben Namen, mit denen die meisten heute wahrscheinlich kein Gesicht mehr verbinden", sagte Landrat Dr. Achim Brötel. "Sie waren Mitglieder einer jüdischen Gemeinde, die allein in Sindolsheim einmal 73 Personen umfasste". Der Lauf der Zeit breite über Vieles den Mantel des Vergessens. Sindolsheim gehe erfreulicherweise gerade den entgegengesetzten Weg. Die Verlegung von sieben Stolpersteinen durch Gunter Demnig sei ein wichtiger Beitrag zu mehr Erinnerungskultur. Besonders bemerkenswert sei die Tatsache, dass die Initiative aus der Mitte der Bürgerschaft entstanden sei. An Paul Niedermann gewandt sagte Landrat Brötel: "Sie haben bei mir einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Das gilt insbesondere für ihre Zeitzeugengespräche, nachdem sie als 13-jähriger Junge ebenfalls nach Gurs verschleppt worden waren". Jüdische Mitbürger hätten über mindestens 700 Jahre hinweg die Region. "Was in der Welt kann Menschen eigentlich dazu bringen, sich so zu versündigen", fragte sich Brötel. "Ich schäme mich für diesen Teil der deutschen Geschichte". Die Stolpersteine von Sindolsheim seien ein weiterer Anstoß, den jüdischen Spuren zu folgen. "Heute ist ein guter Tag für Sindolsheim und für uns alle. Die Aufarbeitung der Geschichte ist nämlich nur eine Seite der Medaille. Mindestens genauso wichtig ist das daraus folgende Vermächtnis für die Zukunft", so Brötel abschließend. Bürgermeister Gerhard Baar betonte: "Die durch dieses Vorgehen zum Ausdruck gebracht Haltung erfüllt mich mit Stolz und Genugtuung". Sindolsheim gehe heute einen entgegengesetzten Weg, indem man sich bewusst dem damals im Dorf ausgeführten Unrecht stelle. Das sei nach seiner festen Überzeugung um so wichtiger, je länger die Nazi-Vergangenheit zurück liege. Mahnung sei dabei ein Auftrag für die Zukunft, besonders für die junge Generation. "Durch die Stolpersteine geben wir allen Sindolsheimern und Besuchern eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Geschichte im Dorf, der Geschichte der Menschen, die Mitbürger und Nachbarn gewesen sind." Nach den Reden brach die gesamte Runde von mehr als 60 Personen zur Verlegung der Stolpersteine auf, die der Künstler Demnig eigenhändig in die Gehwege einbrachte. Bei jedem Stein gab Jürgen Fuchs Informationen über das Leben des und Wirken des früheren Mitbürgers. Die Fakten über das Jüdische Leben in Sindolsheim hat Bernd Ziegler zusammengetragen. Der 87-jährige, in Sindolsheim aufgewachsene Holocaust-Überlebende Paul Niedermann betonte, dass die Gräueltaten der Nazis den Nachkommen des deutschen Volkes in Erinnerung bleiben sollten. Sie hinterließen aber keinesfalls eine Kollektivschuld. Der sichtliche gerührte stand anschließend auf Fragen Rede und Antwort. Initiator der Aktion war der Ortschaftsrat gemeinsam mit dem Förderverein Heimat und Kultur. Die Kosten der Steine und ihre Verlegung seien durch private Spenden mehr als beglichen worden, ließ Thomas Rauscher, Vorsitzender des Fördervereins, wissen. pp

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