![]()
Das achtjährige Gymnasium (G8) ist bundesweit umstritten. Was halten Schüler aus der Region von G8 - und einer Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium (G9)? Wir haben mit fünf von ihnen gesprochen.
Wir treffen uns an einem Nachmittag unter der Woche. War es schwer, euch Zeit für so ein Gespräch zu nehmen?
Nicola Maier: Ich hätte eigentlich noch eine Stunde Unterricht gehabt. Aber mein Abi ist ja jetzt rum, und da hat mein Lehrer gesagt, dass es gut ist, wenn ich mich an so einer Diskussionsrunde beteilige.
Luisa Bauer: Ich hätte heute eigentlich bis viertel vor fünf Unterricht, nur Nebenfächer und Sport. Heute ist unser langer Tag.
Habt ihr mal zusammengerechnet, wie viele Schulstunden ihr pro Woche habt?
Leo Dammer: Bei mir sind es 33.
Luisa Bauer: Ich bin pro Tag durchschnittlich fünf Stunden und 17 Minuten in der Schule.
Aleksandra Jokic: Ich habe 36 Stunden, und die, die noch Spanisch lernen, haben 40 Stunden.
Nicola Maier: Bei mir sind es auch 36 Schulstunden.
Manuel Willenbücher: Also ich bin ja in Rheinland-Pfalz und habe mit G9 nur 30 Stunden die Woche.
Aleksandra Jokic: (Ungläubiges Gemurmel in der Runde: Echt? Nur?) In welche Klasse gehst du denn?
Manuel Willenbücher: In die Elfte.
Aleksandra Jokic: (ungläubig) Elfte? Nur 30 Stunden?
Bleibt euch genug Zeit für Hobbys?
Manuel Willenbücher: Ich persönlich habe sehr viel Zeit für Hobbys. Ich bin in der Feuerwehr und mache noch drei Sportarten - ich spiele Fußball, ich schwimme und ich mache Kampfsport. Das heißt, ich bin jeden Tag in der Woche weg, das ist überhaupt kein Problem. Meine schulischen Leistungen leiden nicht darunter. Dementsprechend bin ich auch überzeugter G9-Anhänger.
Nicola Maier: Ich habe früher vier-, fünfmal die Woche gerudert. Aber dann war irgendwann klar, dass man sich entscheiden muss - ob man sich jetzt auf die Schule konzentriert oder mit dem Sport weitermacht. Aber es geht schon, dass man Sport macht, so ist es auch nicht.
Aleksandra Jokic: Bei mir war es so, dass ich in der Neunten ziemlich viel gemacht habe, getanzt, Chor, ich war beim Schwimmen, das mache ich immer noch. Und ich habe Theater gespielt, schon seit der Grundschule. Jetzt, in der zehnten Klasse, musste ich mich davon verabschieden, weil ich das zeitlich einfach nicht mehr geschafft habe.
Leo Dammer: Ich habe die Zeit für Hobbys, weil ich sie mir nehme. Dafür habe ich weniger Zeit für Schule. Wenn ich außerschulische Projekte mache, dann bringt mir das mehr. Aber dadurch geht schon Leistung in der Schule verloren.
Manuel Willenbücher: Ich brauche den Sport und auch die Feuerwehr als Ausgleich zur Schule. Wenn ich Sport gemacht habe, dann merke ich auch, dass ich in der Schule besser aufpasse, dass ich nicht so zappelig bin, sage ich mal. Ich lerne nicht so viel, aber ich passe gut im Unterricht auf, und deswegen habe ich auch gute Noten.
Aleksandra Jokic: Ich sehe das auch so. Beim Schwimmen bekomme ich einen freien Kopf und danach kann ich mich viel besser konzentrieren, um wieder irgendetwas für die Schule zu tun.
Luisa, du gehst als Einzige hier auf ein Berufliches Gymnasium. Auch dort gilt die Oberstufe als ziemlich hart...
Luisa Bauer: In unserer Klasse sind drei Leute gegangen, weil sie dem psychischen Druck nicht standgehalten haben. Von der Realschule ist es schon ein großer Sprung aufs Berufliche Gymnasium. Allerdings wurde uns damals auf der Realschule gesagt: Ihr werdet alle um zwei Noten abstürzen. Das war bei mir nicht der Fall. Man muss sich eben darauf einstellen, dass man auf eine andere Schule kommt und da mehr verlangt wird.
Habt ihr das Gefühl, dass keine Zeit mehr zum Vertiefen bleibt?
Luisa Bauer: Bei uns am Beruflichen Gymnasium ist ein Vorteil, dass wir ein sechsstündiges Profilfach haben und uns spezialisieren müssen.
Aleksandra Jokic: Ich finde, dass wir durch G8 oft nicht die Zeit haben, in die Tiefe zu gehen. Das wäre für mich auch das Hauptargument für G9. Dass man den Stoff ein bisschen genauer durchgehen kann. Heute ist das Problem, dass alles sehr hektisch ist, der Stoff noch schnell bis zur nächsten Arbeit durchgenommen werden muss. Noch dazu erwarten die Lehrer, dass man den Stoff vom Vorjahr noch weiß. Vielleicht würde man die Dinge, wenn man mehr Zeit hätte, besser im Kopf abspeichern.
Leo Dammer: Das kommt ja von einem selber. Man ist schon gar nicht mehr bereit, für die Ewigkeit zu lernen, weil man sich ja nicht alles merken kann. Man weiß ganz genau: Man wird nicht alle Fächer später brauchen. Deswegen gibt es eben diese Lern-Bulimie: Man lernt und lernt und kotzt es wieder aus - und hat im Endeffekt gar nichts davon.
Hat das etwas mit G8/G9 zu tun?
Manuel Willenbücher: Es gibt natürlich auch Schüler, die trotz G9 keine Freizeit haben. Aber ich denke, es ist nicht so schlimm wie bei G8. Wir haben einfach ein komplettes Jahr zusätzlich. Wir haben mehr Zeit, das merkt man auch den Lehrern an. Die können einfach mal interessante Dinge machen, müssen nicht nur den Lehrplan runterarbeiten.
Luisa Bauer: Von Lehrern wird oft gesagt, dass dieses Bulimie-Lernen Ausdruck von Faulheit ist - weil man nur zu lernen bereit ist, wenn eine Arbeit ansteht. Ich glaube aber, dass es eher eine Folge von Zeitmangel ist: Ich kann nicht in drei Fächern gleichzeitig so viel lernen, dass ich in einem Jahr noch alles weiß.
Wäre es nicht besser, fürs Leben statt für eine Prüfung zu lernen?
Leo Dammer: Aber dann möchte ich mir auch die Fächer aussuchen können. Ich quäle mich jetzt zwei Jahre mit Physik rum - ein Fach, mit dem ich später nie etwas machen will. Vertiefung ist gut, aber nur, wenn wir auch die Freiheit haben, uns auszusuchen, worin. Das sollte wenigstens für die gelten, die schon wissen, was sie machen wollen.
Manuel Willenbücher: Ich denke, dass die Schule generell nicht wirklich aufs Leben vorbereitet. In Deutsch zum Beispiel, da analysieren wir Gedichte und lesen Dramen von vor mehreren hundert Jahren. Damit können wir später im Berufsleben nicht viel anfangen. Und so etwas wie eine Steuererklärung, die wirklich jeder im Leben braucht, das haben wir noch nie angesprochen, das werden wir auch nie ansprechen. Das hat auch nichts mit G8/G9 zu tun.
Aleksandra Jokic: Ich denke, dass man erst im Lauf des Lebens merkt, wie viel man gelernt hat. Auch wenn wir uns heute fragen, wofür wir zum Beispiel mal eine Vektorgleichung brauchen könnten. Aber vielleicht wird einer Bauingenieur und braucht sie dann wirklich. Es ist nun mal die Allgemeine Hochschulreife.
Nicola Maier: Da bin ich deiner Meinung. Lieber lernt man ein paar Dinge zu viel. Das ist dann auch nicht so schlimm. Vieles gehört nun mal zum Allgemeinwissen. Ich finde es auch nicht gut, dass man immer auf G8 rumhackt. Wir wissen ja gar nicht, wie es anders wäre. Wir wissen nicht, ob wir dann wirklich so viel mehr Zeit hätten. Ich zum Beispiel war trotz G8 ein Jahr in der zehnten Klasse im Ausland und ich habe nicht wiederholt. Und das ging auch relativ problemlos.
Viele machen heute schon mit 17 Jahren Abitur.
Aleksandra Jokic: Genau. Heute ist es ja so, dass die meisten Kinder mit sechs Jahren eingeschult werden. Ich wurde Gott sei Dank mit sieben eingeschult, deswegen werde ich bei meinem Abi auch 18 sein. Aber viele von meinen Mitschülern sind dann erst 17. Und wenn die sich dann einschreiben wollen an der Universität, brauchen sie ja noch die Unterschrift von den Eltern.
Nicola Maier: Aber mittlerweile legen ja sehr viele nach dem Abi ein FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) ein.
Aleksandra Jokic: Ja, das stimmt.
Nicola Maier: Oder sie gehen ins Ausland. Viele machen Praktika, um Erfahrung zu sammeln und zu schauen, was sie machen möchten.
Leo Dammer: Wenn ich mein Abi habe, bin ich siebzehneinhalb. Und ich werde nicht mit 17 anfangen zu studieren. Ich will auch was vom Leben sehen, bevor ich wieder lerne. FSJ vielleicht, ein Auslandsjahr oder Praktika...
Nicola Maier: Anfangs dachte ich, dass G8 eingeführt wurde, damit man ein Jahr gewinnt für Auslandsaufenthalte oder ein FSJ. Aber das war ja gar nicht der Grund. Es ging ja nur darum, Kosten zu sparen und schneller fertig zu sein.
Manuel Willenbücher: Ich denke, das eine gesparte Jahr bringt nun nicht die Welt, wenn man sieht, dass man danach 40 Jahre Arbeit hat: Ob man jetzt ein Jahr früher oder später damit anfängt, macht keinen großen Unterschied. Und dafür den Schülern wegen eines gesparten Jahres so viel mehr Stress zuzumuten, macht meiner Meinung nach keinen Sinn. Bei G9 haben sie wenigstens noch Freizeit und Zeit, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Ich denke, wenn man die ganze Zeit so viel Schulstress hat, dann kann man sich auch nicht so gut entwickeln.
Luisa Bauer: Ich finde, dass das ein Problem der Gesellschaft ist: Die ist so leistungsorientiert, dass man ohne Abitur viel geringere Chancen hat. Das ist eine Erwartung, die schon auf den Viertklässlern lastet. Ich wollte das meinem Kind nicht zumuten, aus dieser heilen Grundschulwelt direkt ins Gymnasium zu kommen, am besten noch mit zwei Fremdsprachen. Aber man muss ja auch nicht aufs Gymnasium gehen, um Abitur zu machen, ich war ja auch nicht auf dem Gymnasium. Man hat schon die Möglichkeit, entspannte fünf Jahre durch die Realschule zu gehen und sich dann drei Jahre mehr oder weniger intensiv auf einem Beruflichen Gymnasium reinzuhängen.
Leo Dammer: Ich fände es gut, wenn G9 die gleiche Stundenzahl hätte wie G8, man innerhalb dieser Stunden aber mehr Zeit für freiwillige Sachen hätte wie Arbeitsgemeinschaften oder SMV. Wenn ich schon so viel Zeit in der Schule verbringe, will ich da auch mitgestalten.
Ihr tendiert also eher zu G9. Aber was haltet ihr davon, wirklich dazu zurückzukehren. Findet ihr, dass der Aufwand sich lohnt? Oder sollte man eher G8 verändern?
Leo Dammer: Ich finde, man sollte G9 durchziehen. G8 war ein Fehler. Fehler sind menschlich und daraus sollte man lernen. Jetzt zu sagen, das wäre viel zu viel Arbeit, ist kein Argument.
Aleksandra Jokic: Ich fände es gut, wenn in Baden-Württemberg wieder G9 eingeführt würde. Es ist aber sowohl für Lehrer als auch für Schüler schwierig, wenn immer wieder alles verändert wird. Meiner Meinung nach müsste man sich dann daran halten und nicht wieder wechseln.
Nicola Maier: Ich glaube, es ist eine Illusion zu sagen, wir gehen zurück zu G9 und dann wird alles wieder besser. Ich finde, da macht man es sich zu einfach. Wie ist es in Rheinland-Pfalz, ihr seid doch im Januar mit dem Abitur und um Ostern herum ganz fertig, oder?
Manuel Willenbücher: Ja.
Nicola Maier: Das finde ich eigentlich einen guten Kompromiss.
Manuel Willenbücher: Ich wäre dafür, G9 wieder flächendeckend einzuführen.
Luisa Bauer: Dann kann man ja immer noch ein Jahr überspringen, wenn man das will. Ich denke schon, dass Baden-Württemberg zu G9 zurückkehren sollte. Es wäre ja auch ein Zeichen, zu sagen: Es war ein Fehler. Und es wäre ein Zeichen, wenn man der jungen Generation die Möglichkeit gibt, sich vorzubereiten. Ihr die Zeit zu lassen, zu lernen und sich zu entwickeln.