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Tausende Flüchtlinge wollen über Italien in den Norden, nicht alle erreichen ihr Ziel. Mohammed hat es geschafft, Abdullah sitzt auf Sizilien fest.
Man erkennt sie an der Langeweile und am scheuen Blick. Sie sitzen da und rauchen, kaum als Flüchtlinge erkennbar. Einer neben dem anderen, auf einer steinernen Bank im Mailänder Hauptbahnhof. Unter glitzernden Werbeanzeigen warten sie darauf, dass es weitergeht. Noch haben sie keinen Plan, nur eine Idee: Nordeuropa.
Dort wollen sie alle hin, am besten nach Deutschland oder Schweden. Die drei Männer aus Syrien sind vor ein paar Stunden mit dem Zug aus Sizilien angekommen. Kemal Fatih, Vater von drei Kindern, hat seinen Rucksack neben sich auf die Bank gestellt. Omar Dawani, der faule Zähne hat und dessen Haut sich in Schuppen von den Fingern pellt, hält eine Packung Zigaretten in der Hand. Mohammed Kelar trägt alles, was er hat, in einer Gürteltasche: ein Samsung-Smartphone, seinen Pass und 45 Euro Bargeld. Er ist 21 Jahre alt und hat ein Jahr Wirtschaftswissenschaften in Aleppo studiert, bevor ihn die Schergen des Präsidenten Baschar al-Assad verhaften konnten.
"Ich hatte Todesangst""Sie töten alle, die nicht für Assad sind", sagt Mohammed. Seit dem 23. März ist er auf der Flucht. Über Ägypten nach Libyen, von dort in einem der überfüllten Kähne über das Mittelmeer. "Ich hatte Todesangst", erzählt Mohammed. Mehrmals drohte sein Boot unterzugehen. Nach 17 Stunden im Meer griff ihn die italienische Marine auf. Ein paar Tage blieb er im Auffanglager in Syrakus auf Sizilien, dann zog er weiter. Jetzt sitzt er verloren in der glänzenden Bahnhofswartehalle.
"Ich habe keinen Plan", sagt Mohammed und schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar. Eines Tages wolle er Familie, heiraten, ein Kind. "Ein normales Leben eben", sagt er. "In meinem Land wurden wir wie Tiere behandelt." In der Wartehalle wird er eine Flasche Wasser, ein U-Bahnticket und einen Platz für eine Notunterkunft zugewiesen bekommen.
Seit die ersten Familien im vergangenen Herbst am Mailänder Hauptbahnhof ihr Lager aufschlugen, helfen Stadt und katholische Organisationen täglich mit Freiwilligen. In ein paar Tagen soll es weitergehen. "Taxi, Zug, irgendwie", antwortet Mohammed auf die Frage, wie er die letzte Etappe zurücklegen will. Er werde zu Allah beten, dass es klappt. Sein Vater, der noch im zerstörten Aleppo mit dem Rest der Familie verharrt, hat ihm geraten, nach Deutschland zu gehen. "Dort wirst du wie ein König leben", hat er seinem Sohn gesagt. "Stimmt das?", will Mohammed wissen.
Organisierte Schlepperbanden
Wer in Mailand angekommen ist, den Marsch durch die Sahara und die Überfahrt auf den überfüllten Flüchtlingsbooten überlebt hat, der ist fast am Ziel. Mailand ist derzeit Europas größter "Umschlagplatz für die Ware Mensch". Schlepperbanden, oft Ägypter oder Tunesier, organisieren nicht nur die Überfahrt, sondern auch den Transport über Land. Sie wissen, wo sie ihre Kunden bekommen. Nachts, in den Straßen in der Nähe der Notunterkünfte, warten sie auf die Flüchtlinge. Dann wird gefeilscht. 5000 Euro für eine Familie im Auto bis Stockholm. 700 Euro kostet ein einfacher Trip auf die andere Seite der Alpen.
Mehr als 50 000 Flüchtlinge sind seit Anfang des Jahres an den Küsten Italiens gelandet, während es 2013 43 000 waren. Nur etwa 60 Prozent stellten einen Asylantrag in Italien, der Rest zieht weiter. Hunderttausende warten nach Informationen des italienischen Geheimdienstes in Libyen auf die Überfahrt. Jetzt, im Sommer, wenn das Meer still ist, sind die Bedingungen für die Überfahrt besonders günstig. Flüchtlingsorganisationen schätzen, bis zu 100 000 Menschen könnten am Ende dieses Jahres Europa über das Mittelmeer erreicht haben. Unter ihnen Syrer, Eritreer und Somalier.
Im Oktober war ein mit mehr als 350 Flüchtlingen überfüllter Kutter vor der Insel Lampedusa gesunken. Kurzzeitig sorgte die Katastrophe für Empörung. Seither holt die italienische Marine die überfüllten Boote schon 30 bis 40 Meilen vor der von Banden beherrschten, unbewachten libyschen Küste ab. Die Überfahrt ist deshalb aber nicht sicherer geworden. Die Schlepper, die sich Rettungsringe oder einen besseren Platz an Deck extra bezahlen lassen, stapeln seither noch mehr Menschen auf den Booten. Diese sind immer weniger für eine Überfahrt geeignet, Kähne ohne Kiel oder unstabile Schlauchboote. Sogar am Benzin können die Menschenhändler sparen, denn sie wissen, eines der Marine-Boote ist immer in der Nähe. Das ist der zynische Beigeschmack dieser humanitären Operation namens "Mare Nostrum", die Italien 300 000 Euro am Tag kostet.
Neue Heimat "Zona Paradiso"
Auch Abdullah Osman aus Gambia kam von Libyen übers Meer, am 29. April. Er sah seinen Freund ertrinken, dreimal drohte das mit 125 Menschen überfüllte Schlauchboot zu kentern. Jetzt sitzt der 17-Jährige in der Kleinstadt Augusta auf Sizilien fest. Dort legen die italienischen Marine-Schiffe alle paar Tage an und spucken ihre Menschen-Ladungen aus, manchmal 1500 Flüchtlinge auf einmal.
"Zona Paradiso" heißt das Viertel, in dem Abdullah mit 150 jungen Männern in einem baufälligen Schulgebäude untergekommen ist. Die Gemeinde hat eine Notunterkunft eingerichtet. Vom Paradies, das auch Abdullah sich versprach, ist kaum eine Spur. Die Jungen schlafen auf Pritschen, der Boden klebt und ist mit Essensresten übersät. Manche der Jugendlichen sind erst 13 oder 14 Jahre alt, sie bekommen von der Gemeinde zu essen und retten sich mit einem Fußball über die Zeit.
Ein paar Jungs aus den Mietskasernen der Umgebung haben Freundschaft geschlossen mit den Flüchtlingen. Es gibt Familien in der Gegend, die als Tutoren Ämtergänge für die jungen Afrikaner übernehmen wollen und Menschen, die Kleider sammeln, überdies ein paar gutmütige, aber überfordert wirkende Helfer. Aber dann ist da eben auch die Frau vor dem Supermarkt, die nichts von den "Scheiß Negern" wissen will, und ältere Herren, die sich abends auf der Suche nach Sex mit jungen Männern in die "Zona Paradiso" schleichen. "Wir haben keine Arbeit, und die werden hier vom Staat versorgt", schimpft ein Mädchen in der "Pizzeria Paradiso".
20 Euro kostet ein Flüchtling die Gemeinde, die 63 Millionen Euro Schulden hat und deren Verwaltung 2012 wegen Verbindungen zur Mafia aufgelöst wurde. Seither haben in Augusta drei Sonderkommissare das Sagen. Das ist Abdullahs Paradies. "Kannst du mich nach Freiburg mitnehmen?", fragt er. Er habe zu Hause alles verloren, auch seine Eltern. "Ich bin ein sehr guter Fußballer." Er habe sich im Internet über den SC Freiburg informiert, den Trainingsplatz und das Dreisamstadion auf Bildern gesehen. Das wäre eine Zukunft. Im Norden.
Identifikation mit Folgen
Alle hier wollen weiter über die Alpen. Doch Abdullah gehört zu denen, die sich gleich nach der Landung ihre Personalien und Fingerabdrücke haben nehmen lassen. So schreibt es das Gesetz vor, wenngleich die Polizei niemanden zur Identifikation zwingen kann. Abdullah ist deshalb bereits am Ziel angekommen, ob er will oder nicht. Hat er einmal seinen Asylbescheid, was Jahre dauern könnte, darf er sich weiter frei in Italien bewegen. Übertritt er aber eine der Grenzen im Norden Italiens und lässt sich dabei erwischen, wird ihn die deutsche, österreichische oder französische Polizei wieder nach Italien abschieben.
Der Syrer Mohammed und seine Begleiter am Mailänder Bahnhof haben sich an die ungeschriebenen Gesetze derer gehalten, die in den Norden weiterziehen wollen. Mohammed wusste, dass es wichtig war, keine Spuren zu hinterlassen. "Keine Fingerabdrücke, keinen Namen", sagt er. Die Auffanglager, die wie Gefängnisse aussehen, aber keine sind, kann jeder Flüchtling jederzeit ohne Konsequenzen verlassen. Mohammed haute ab.
In Mailand braucht er nun Geld, Kontakte und noch ein wenig Mut. In Syrien und im Mittelmeer ist er dem Tod begegnet, in Libyen musste er zusehen, wie sogenannte Sicherheitskräfte einen Freund von ihm halb totschlugen. Er ist misstrauisch und hat Angst, vor den Bahnhof zu gehen. "Ist die Polizei hier brutal", will er wissen. Und in Deutschland? Er hat nichts Gutes gehört. Vielleicht, meint Mohammed, sei er doch besser in Schweden aufgehoben.
Ernüchternde Wirklichkeit
Mailand, soviel steht fest, ist für ihn nur der letzte Umschlagplatz auf dem Weg in ein neues Leben. Mohammed, der aus wohlhabenden Verhältnissen stammt, will sich Geld von seiner Familie schicken lassen. Nach zwei Monaten auf der Flucht geht es jetzt nur noch darum, das Ziel und den besten Weg zu finden.
Die Fahrt mit dem Zug wagen Zeit weniger Flüchtlinge, weil dort schärfer kontrolliert wird. Obwohl es Berichte etwa über Schweizer Zöllner gibt, die Flüchtlinge mit einem Ticket nach Deutschland oder Frankreich einfach weiterfahren lassen. Die Realität hat die Gesetze aus den Angeln gehoben.
Auch Italien hofft, dass der Kelch zumindest teilweise am Land vorübergeht. Schon jetzt tummeln sich Zehntausende in den überfüllten, trostlosen und über das ganze Land verteilten Auffanglagern. Nicht selten vergehen Jahre, bis die italienische Verwaltung über Asyl-Anträge entscheidet. Dann werden Menschen wie Abdullah Osman in die italienische Realität entlassen: 61 Prozent Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen in Süditalien. Abdullah droht ein Leben in Schwarzarbeit, Ausbeutung und Illegalität. Mohammed kann weiter hoffen. Ein paar Tage nach der Begegnung in Mailand schickt er eine SMS: "Ja mein Freund, wir sind in Schweden angekommen. Mit dem Auto. Allen geht es gut. Bye, Mohammed."