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Seit dem Ausbruch des Gaza-Konflikts häufen sich antijüdische Übergriffe in Deutschland. Experten wollen dennoch nicht von einer neuen Qualität sprechen.
Es geschah am helllichten Tag mitten in Berlin. Vor wenigen Tagen stürmte eine Gruppe arabischstämmiger Jugendlicher, keiner von ihnen über 18 Jahre alt, im Bahnhof Brandenburger Tor in die S-Bahn. Laut brüllten sie "Hamas, Hamas!" oder "Israel - Mörderstaat". Die Fahrgäste waren mit der Situation überfordert, sie schauten betreten zur Seite. Nach drei Stationen war der Spuk vorbei. Am Bahnhof Yorckstraße im Bezirk Kreuzberg verließen die Jugendlichen die S-Bahn und zogen weiter, immer noch laut "Hamas, Hamas!" brüllend.
Eine Szene, kaum der Rede wert, und doch symptomatisch für die Stimmung in der Hauptstadt in diesen schwül-heißen Sommertagen. Im Nahen Osten eskaliert - wieder einmal - der Konflikt zwischen Israel und der radikalen Palästinenserorganisation Hamas, nach dem Beschuss von jüdischen Siedlungen durch Raketen ist die israelische Armee in den dicht besiedelten Gaza-Streifen einmarschiert, Stellungen der Hamas werden bombardiert, wobei auch viele Zivilisten ihr Leben verlieren.
Jüdische Touristen angegriffen
Und wieder einmal erreicht dieser Konflikt auch Deutschland und wird auf den Straßen Berlins und anderer Städte ausgetragen. Bei zahlreichen Demonstrationen gegen die Politik Israels kam es in den vergangenen Tagen zu antisemitischen Übergriffen, unter anderem wurden Parolen wie "Tod den Juden" oder "Juden ins Gas" skandiert, auf Transparenten war "Kindermörder Israel" zu lesen, am Rande einer Protestkundgebung in Berlin wurden jüdische Touristen tätlich angegriffen. Und in Wuppertal haben in der Nacht zum Dienstag drei junge Männer mehrere Brandsätze auf eine Synagoge geworfen.
Die Wut der Demonstranten kam für die deutschen Sicherheitsbehörden überraschend, auf die Gewalttätigkeit der überwiegend arabischstämmigen Demonstranten waren sie zunächst nicht vorbereitet. "Aufgrund der eingetretenen Eskalation ist temporär von einer Gefährdungserhöhung von israelischen Einrichtungen und Interessen in Deutschland auszugehen", warnte das Bundesinnenministerium in der vergangenen Woche. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, forderte "mehr Solidarität aus der deutschen, nichtjüdischen Gesellschaft", seine Vorgängerin Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, zeigte sich gar schockiert: "Es ist unerträglich, wie allgegenwärtig Judenfeindlichkeit bis in die breite Mitte der Gesellschaft ist."
Aber handelt es sich bei den Vorkommnissen wirklich um einen neuen Antisemitismus? Die Experten sind vorsichtig mit einem Urteil. Die Kriminalitätsstatistik belegt, dass es in der Regel Rechtsextremisten sind, die antisemitisch motivierte Straftaten begehen. Doch dreimal schnellten die Zahlen in der Vergangenheit deutlich nach oben, in den Jahren 2002, 2006 und 2009 - immer dann, wenn der Nahostkonflikt wieder eskalierte. "Von einem neuen Antisemitismus würde ich nicht sprechen", sagt beispielsweise Bernd Palenda, der Chef des Berliner Verfassungsschutzamtes. Alles hänge davon ab, wie es im Nahen Osten weitergehe "Es gibt bei den Demonstrationen gegen Israel zwar durchaus eine Verdichtung von Gruppierungen, die dahinterstehen, und einige Moschee-Vereine haben auch ein Interesse daran, die Stimmung anzuheizen. Aber es gibt keine zentrale Organisation, die alles steuert", so Palenda.
Auch der Historiker Wolfgang Benz, der bis 2011 das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung leitete, sieht keine Anzeichen für einen neuen Antisemitismus. Zwar seien am Rande von Demonstrationen antisemitische Parolen gerufen worden, doch das sei "keineswegs eine Lawine, die größer und größer wird". Vielmehr sei zu beobachten, dass "die Stimmung gegenüber dem Staate Israel immer schlechter" werde. "Das ist kein Antisemitismus." Auch die israelische Regierung habe ein Interesse daran, "dass jede Kritik an ihren Handlungen als Antisemitismus verstanden wird. Aber nicht jeder, der den Gaza-Krieg missbilligt, ist deshalb ein Antisemit."
Sicherheitsexperten haben eine andere Erklärung für die Gewaltausbrüche zur Hand: Die arabischstämmigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen hätten das Gefühl, in Deutschland benachteiligt zu werden - so wie die Palästinenser in Israel. "Sie solidarisieren sich mit dem Schicksal der Palästinenser, die sie ausschließlich als Opfer israelischer Politik wahrnehmen", heißt es in einer Studie des Bundesinnenministeriums. Verstärkt werde das Ganze durch die einseitige Berichterstattung der arabischen Medien, die die ebenso schlichte wie politisch brisante Botschaft verbreiten: "Israel hat kein Existenzrecht.""Parallel zum Nahostkonflikt"
Das bestätigt auch Lamya Kaddor vom Institut für islamische Religionspädagogik an der Universität Münster. "Der arabische Antisemitismus ist meist politisch hergeleitet. Der läuft parallel zum Nahostkonflikt." Der Krieg in Gaza sei dabei "nur das Ventil". Charlotte Knobloch, die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat dafür kein Verständnis: "Die Judenfeindlichkeit unter den hier lebenden Muslimen, vor allem den Jungen, ist erschreckend hoch. Das offenbart ein enormes Integrationsdefizit." Es sei nicht gelungen, diese Menschen in die freiheitlich-demokratische Wertegemeinschaft zu integrieren. "Mit diesem irrationalen, aggressiven Hass ist unsere liberale Kultur völlig überfordert."