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„Weltmaschine“ vor dem Aufbruch in neue Sphären

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Warum existieren wir? Was kommt nach unserem Universum? Mit Hilfe lichtschneller Teilchen suchen Wissenschaftler am Europäischen Kernforschungszentrum CERN Antworten auf große Menschheitsfragen. Mit Leichenaugen lässt sich die "Weltmaschine" nicht überlisten. Dan Brown hat das nicht gewusst oder ignoriert. In seinem Thriller "Illuminati" kann der Dieb einer Portion Anti-Materie das Sicherheitssystem des Europäischen Kernforschungszentrums CERN mit dem ausgestochenen Auge eines ermordeten Wissenschaftlers austricksen. Das wirkliche Leben ist anders: "Schauen Sie", sagt Christoph Rembser und schiebt sein Gesicht dicht vor den Augenscanner. "Der scannt und sendet zugleich Lichtsignale. Die Pupillen müssen reagieren, tot könnten sie das nicht." Die quicklebendigen Augen des 49-jährigen Physikers aus Bonn öffnen uns ein Tor zum Large Hadron Collider (LHC). Willkommen im leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt, in der Wiege des Higgs-Teilchens, des berühmtesten Bausteins im Standardmodell der Materie. Jenes Teilchens, dem wir nach Überzeugung von CERN-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer (65) aus Stuttgart sowie Tausender anderer Atomphysiker unsere Existenz verdanken. Menschen ebenso wie Tiere, Pflanzen und alles, was es in und um uns herum gibt. Denn nur dieses Teilchen soll den anderen überhaupt erst eine Masse verleihen, ohne die sie nur end- und nutzlos mit Lichtgeschwindigkeit durchs All schwirren würden. Was mangels Masse nie Halt findet, kann auch keine Partnerschaft mit anderen Teilchen eingehen, kann sich nie zu einem Atomkern entwickeln. Teilchenphysik wirkt spannend, wenn CERN-Forscher sich die Zeit nehmen, sie Laien zu erklären. So entstand wohl auch der Kosename "Weltmaschine". Treffend ist er: Fast 10 000 Wissenschaftler aus mehr als 110 Ländern sind - vor Ort in Genf oder an Computern ihrer Heimatinstitute - mit den Experimenten des CERN beschäftigt. Es ist ein Labor für die ganze Welt. Und das Kernstück, der Beschleuniger LHC, ist die größte Maschine auf der Erde. Inszenierung des Urknalls Wobei sich der LHC, genau genommen, vor allem unter der Erde befindet. Bis zu 150 Meter tief, im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Frankreich, nördlich des Genfer Sees bis zu den Ausläufern des französischen Jura erstreckt sich sein kreisrunder Tunnel. Auf einer Länge von 27 Kilometern. Was Physiker, Ingenieure und Techniker in dieser Riesenröhre veranstalten, ist nichts anderes als die Inszenierung des Urknalls, der Entstehung von Materie, Raum und Zeit. Warum gibt es unsere Welt, wie ist alles entstanden, wie entwickelt sich unser Universum? Und was kommt danach? Um Antworten auf große Menschheitsfragen zu finden, beobachten die Forscher am CERN die kleinsten, nur noch mit allergrößter Mühe messbaren Grundbausteine des Daseins, die Elementarteilchen. "Wenn man die Spielregeln der Natur kennenlernen will, dann geht das über die Beobachtung und Analyse von Abbildern ihrer kleinsten Elemente", sagt CERN-Forscher Rembser. "Was uns interessiert, geschieht auf einem Bruchteil eines Millimeters." Und es geschieht nur, wenn man die klitzekleinen Teilchen auf Trab bringt: Im Vakuum des LHC, das in etwa dem des Weltalls entspricht, werden Milliarden von vorher erzeugten Teilchen der gleichen Sorte - entweder Protonen oder Blei-Ionen - mit nahezu Lichtgeschwindigkeit in zwei Strahlen frontal aufeinander losgejagt. 20 Millionen Bilder pro Sekunde Jeder Strahl hat etwa so viel Energie wie ein Auto sie bei 1600 Stundenkilometern hätte. Dabei ist die "Weltmaschine" auch der größte "Unfallverursacher", ganz gewollt: Bei den eigens herbeigeführten Frontalzusammenstößen entstehen ganze Regen von Folgeteilchen. Die Physiker vergleichen und analysieren sie, um neuen Phänomenen der Materie auf die Spur zu kommen. Der Kreisbeschleuniger wäre lediglich eine riesige Teilchenrennstrecke, würde der Ring nicht durch vier Detektoren von der Größe mehrstöckiger Häuser führen. Sie heißen Atlas, Alice, CMS und LHCb und dienen unterschiedlichen Experimenten. "Atlas hat mehr Einzelteile als ein Airbus A 380", sagt Rembser fast beiläufig. Und allein Atlas - ungefähr halb so groß wie die Kathedrale Notre-Dame in Paris - beschäftigt mehr Menschen als so manche Fluggesellschaft: Rund 3000 Wissenschaftler in 38 Staaten sind in die Auswertung der von ihm gelieferten Daten einbezogen. "Man kann sich das wie einen gigantischen Fotoapparat vorstellen", sagt Daniel Dobos. Der 34-jährige Physiker von der Uni Dortmund arbeitet zusammen mit Rembser am Atlas-Projekt, das maßgeblich an der Entdeckung des Higgs-Teilchens im vergangenen Jahr beteiligt war. "Der Atlas-Detektor liefert uns Bilddaten der Ergebnisse von Kollisionen", erklärt Dobos. In schier unvorstellbar großen Mengen: Rund 20 Millionen Kollisionsbilder pro Sekunde. "Das ist ungefähr so, als würde jeder Erdenbürger zur selben Zeit 80 Telefongespräche auf einmal führen", sagt Dobos schmunzelnd: "So viel kann selbst die NSA der USA nicht verkraften." Auch das CERN kann das nicht. Deshalb werden die Daten auf Rechenzentren in der ganzen Welt verteilt. Darunter in Deutschland - einem der 20 CERN-Mitgliedstaaten -, wo allein mehr als 1000 Wissenschaftler von 21 Universitäten und Instituten an LHC-Experimenten beteiligt sind. Deutschlands Steuerzahler bringen 20 Prozent des CERN-Budgets von jährlich umgerechnet 800 Millionen Euro auf. Dabei liegt es in der Natur jeder Grundlagenforschung, dass Fragen nach ihrem Nutzen für den Normalverbraucher nicht leicht zu beantworten sind. Hoffnung auf Heilung von Krebs Wozu brauchen wir Anti-Materie? Ist das nicht dieses Zeug, mit dem der "Illuminati"-Bösewicht den Vatikan auslöschen wollte? CERN-Chef Heuer ermutigt die Forscher, geduldig auf Laien-Fragen zu antworten: Ja, am CERN wird auch Anti-Materie erzeugt. Eines Tages könnten Teilchen namens Antiprotonen die Tumorbestrahlung revolutionieren und Krebspatienten heilen helfen. Nein, eine Bombe, wie Dan Brown sie beschrieb, sei nicht zu befürchten. Um die benötigte Menge Anti-Materie zu erzeugen, bräuchte selbst das CERN zwei Milliarden Jahre. Von einem "Nebeneffekt" der CERN-Forschung profitieren längst Milliarden Menschen: das World Wide Web. Um mehr Übersicht in die Informationsflut am Kernforschungszentrum zu bringen, schuf der britische Wissenschaftler Tim Berners-Lee die Grundlagen für das WWW. Der erste Web-Server war "info.cern.ch". 1993 gab das CERN die Technologie für die öffentliche Nutzung frei. 2012 beflügelte der Nachweis eines Higgs-Teilchens am CERN die Fantasie von Millionen. Benannt nach dem britischen Physiker Peter Higgs (84), der es 1964 vorhersagte, komplettiert das Teilchen das Standardmodell des Aufbaus der Materie, also "lediglich" der bekannten Welt. Weit größere Rätsel birgt die unbekannte Welt: "Wir wissen nur etwas über einen sehr kleinen Teil unseres Universums, mehr als 80 Prozent sind Dunkle Materie, geheimnisvoll und mysteriös", sagt Rembser. Er und seine Kollegen wollen wissen, wieso ganze Galaxien durch das All fliegen, obwohl die Sterne darin zu wenig Schwerkraft aufbringen, um die Gebilde zusammenzuhalten. Sie fragen, weshalb sich die spiralförmigen Arme unserer Galaxie schneller drehen, als sich mit der Anziehungskraft der sichtbaren Materie erklären ließe. Ausbau bis 2015 Erkennbar könnte Dunkle Materie werden, wenn zwei ihrer Teilchen zusammenkrachen. Sie würden sich dabei zwar gegenseitig auslöschen, aber aus der freigesetzten Energie könnten Positronen entstehen - die Antiteilchen zu negativ geladenen Elektronen. Davon geht jedenfalls die Supersymmetrie aus, die wohl ambitionierteste aller Physiker-Theorien zur Erweiterung des bisherigen Weltmodells. "Ich bin sicher, dass wir eines Tages Dunkle Materie finden", sagt Rembser. Auch dafür wird die Weltmaschine derzeit umfangreich aufgerüstet. Seit Februar steht sie still. Techniker sind in der LHC-Röhre damit beschäftigt, mehr als 10 000  Stromverbindungen zwischen supraleitenden Magneten zu erneuern. Mit einer Stärke von acht Tesla, die dem Fünfzigtausendfachen des natürlichen Magnetfeldes der Erde entspricht, müssen diese Magneten der Fliehkraft der rasenden Teilchen entgegenwirken, um sie auf der Ringbahn zu halten. "Es hat fast 50 Jahre gebraucht, um das Standardmodell der Materie zu komplettieren", sagt Heuer. "Nun wird es Zeit, in das dunkle Universum vorzustoßen." Nur noch den Anlauf dazu wird der heute 65-Jährige an der Spitze des CERN erleben. Sein wichtigstes Ziel vor der Pensionierung: "Ich möchte dieses Biest 2015 gut zum Laufen bringen."

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