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Vor 25 Jahren starben bei einem Unglück auf der westpfälzischen US-Airbase 70 Menschen. Überlebende und Angehörige leiden bis heute an den Folgen der Katastrophe.
Zum Symbol der Liebe soll das durchstoßene Herz hoch über den Köpfen der Menschen auf der US-Airbase Ramstein werden - in Erinnerung bleibt die Flugfigur als Sinnbild von Tod, Leid und Entsetzen: Bei dem missglückten Manöver kollidieren drei Düsenjäger der italienischen Kunstflugstaffel "Frecce Tricolori" in der Luft und stürzen zu Boden. Eine der Maschinen landet mitten in der Zuschauermenge. Es regnet Kerosin und Trümmerteile. Menschen brennen, schreien, suchen verzweifelt nach Angehörigen. Später steht fest: 70 Zuschauer sind tot, mindestens 450 weitere schwer verletzt. In den Köpfen vieler Überlebender haben sich die Szenen des 28. August 1988 unauslöschlich eingeprägt. An den Folgen des Unglücks leiden sie bis heute.
Für Roland Fuchs ist Ramstein noch immer gegenwärtig. Jeden Tag erinnern ihn die Narben auf seinem Körper daran. Gut 60 Prozent seiner Haut sind damals verbrannt. Wenn es heiß ist, fühlt er sich wie in einem Taucheranzug - das zerstörte Gewebe schwitzt nicht. Einige seiner Finger sind versteift. Als Schreiner kann der 48-Jährige nicht mehr arbeiten. "Schlimmer noch als das Körperliche ist das Psychische", sagt der Waibstadter. Täglich drängen bruchstückhafte Erinnerungen in sein Bewusstsein, "wie aus heiterem Himmel". Dann hat er Bilder aus der Zeit vor der Katastrophe vor Augen - oder vom Unglückstag selbst.
Der damals 23-Jährige ist mit seiner Frau Carmen und Tochter Nadine schon auf dem Rückweg zum Auto, als neun der zehn Piloten ein Herz formen, durch das Ivo Nutarelli als Pfeil hindurchstoßen soll. Wenige Augenblicke später trifft ein Trümmerteil Carmens Kopf, den Mann der 21-Jährigen schleudert eine Druckwelle meterweit. Obwohl seine durch das Kerosin verbrannte Haut in Fetzen herabhängt, kümmert sich Fuchs um die fünfjährige Nadine, als er sie findet. Doch Amerikaner nehmen ihn mit. Soldaten oder Zivilisten? Er weiß es nicht. Die ausgestreckten Arme sind das Letzte, was Fuchs von seiner Tochter sieht. Dann wird er ohnmächtig.
Über Umwege kommt der lebensgefährlich Verletzte in ein Koblenzer Krankenhaus, wo er erst nach Wochen im Koma allmählich wieder das Bewusstsein erlangt. Jeden Morgen gilt der erste Blick dem Verband an seinen Händen. Eine Amputation scheint unvermeidlich. Die Verbrennungsschmerzen sind kaum auszuhalten, dennoch werden selbst die stärksten Schmerzmittel abgesetzt. Sie helfen nicht. Zudem bedroht hohes Fieber seinen Körper. Mehrfach befürchten Ärzte, er würde die Nacht nicht überleben. "Endlich, dachte ich", sagt Fuchs. "Doch die Sonne ging wieder auf - und ich war enttäuscht."
Erst im Oktober erfährt er, dass seine Frau tot ist, ebenso die fünfjährige Nadine, die am Tag von Carmens Beerdigung ihren Verletzungen erlegen ist. "Das war ein großer Schock", erklärt Fuchs mit ruhiger Stimme, "doch ich hatte endlich Klarheit." Er tröstet sich damit, dass ihnen weitere unerträgliche Schmerzen erspart geblieben sind. An einen Gott kann der früher überzeugte Katholik aber nicht mehr glauben: "Wenn es ihn gäbe, hätte er Ramstein niemals zugelassen."
Mit der Zeit bessert sich sein Zustand, auch seine Hände bleiben erhalten. "Irgendwann muss man sich fragen, wie es weitergehen soll. Wäre Carmen an meiner Stelle gewesen, hätte ich auch nicht gewollt, dass sie ihr Leben wegwirft."Über eineinhalb Jahre hinweg unterzieht sich Fuchs Dutzenden von Operationen, fasst neuen Lebensmut. 1994 heiratet er seine zweite Frau Elisabeth, mit der er drei Töchter bekommt. "Es ist ein neues Leben", sagt Fuchs, "Ersatz gibt es nicht."
Noch immer fährt der Waibstadter regelmäßig zum Gedenkstein: "Als Ort der Erinnerung hat er mehr Bedeutung für mich als der Friedhof. Einfach nur ein oder zwei Stunden sitzen und da sein - dann geht es mir besser." Was geschieht, wenn dabei ein Flugzeug über ihn hinwegfliegt? "Nichts", erklärt der Mann mit den blauen Augen, denen der Glanz fehlt. "In dieser Hinsicht ist alles abgetötet. Doch ich kenne andere, die noch heute in Ohnmacht fallen."
Etwa seit ihrem zehnten Lebensjahr begleiten seine Töchter Fuchs an den Jahrestagen oder wenn er auf den Friedhof geht. "Im Alltag steht es natürlich nicht im Vordergrund, doch Ramstein ist auch Teil ihres Lebens." Er selbst verarbeitet das Unglück auf einer Internetseite. "Ein Stück weit Selbsttherapie", sagt Fuchs. Doch die genügt nicht.
Mehrfach im Jahr nimmt er an den Treffen der Überlebenden teil. Betreut werden diese ehrenamtlich von dem Therapeuten-Ehepaar Hartmut und Sybille Jatzko sowie von dem Psychologen Heiner Seidlitz. "Hätte Herr Seidlitz mich nicht bei der Gedenkfeier am ersten Jahrestag angesprochen, wäre ich ganz alleine dagestanden", sagt Fuchs.
"Viele versuchen erst alleine, das Geschehene zu verarbeiten, schaffen es dann aber nicht", sagt Sybille Jatzko. Die Nachsorgegruppe schaffe ein Gefühl der Verbundenheit, gebe Betroffenen Halt. In manchen Phasen gehe es besser, doch auch nach vielen Jahren erlitten Traumatisierte Rückschläge. "Außenstehende können das nicht nachvollziehen und glauben, es müsse irgendwann vorbei sein", erläutert Jatzko, "doch das ist es oft nicht."
Immerhin habe Ramstein dafür gesorgt, dass in Deutschland ein Bewusstsein für psychische Schäden entstanden sei. Inzwischen gebe es bei Katastrophen psychologische wie administrative Ombudsstellen als Ansprechpartner. Sie selbst ist Ombudsfrau für die Traumatisierten und Hinterbliebenen des Unglücks bei der Loveparade 2010.
Wegen der anfänglichen Skepsis gegenüber der Nachsorgegruppe macht Jatzko keinem der Entscheidungsträger von damals Vorwürfe: "Ramstein war ein Politikum, und niemand wusste, was wir vorhatten. Die Erfahrung im Umgang mit Traumata fehlte in Deutschland noch." Wohl aber erzürnt es sie, dass über ein gesetzliches Mindestmaß hinaus keine Entschädigungen gezahlt wurden. "Es geht nicht um Geld, sondern um die Anerkennung des Leids, das den Opfern widerfahren ist."
Insgesamt rund 32 Millionen Mark (16,36 Millionen Euro) flossen im Rahmen eines Vergleichs von der Bundesregierung an Opfer und Hinterbliebene. Geld gab es nur als Ausgleich für körperliche Schäden. Für psychische Folgen übernahm niemand Verantwortung. Mehrere Klagen wurden abgewiesen, darunter 2003 vom Landgericht Koblenz, eine Woche nach dem 15. Jahrestag des Unglücks: Die Ansprüche der fünf Kläger seien verjährt, hieß es damals.
Bei Roland Fuchs dauerte es allein fünf zermürbende Jahre, bis sein Rentenbescheid bewilligt war. Heute versucht er - so weit es die Flashbacks zulassen - im Hier und Jetzt zu leben. "Ich plane nur noch bis zum nächsten Wochenende. Was danach kommt, kann man nie wissen." Eines aber war schon lange vor dem Jahrestag sicher: Heute wird Fuchs in Ramstein sein - und einen Kranz zum Gedenkstein bringen.