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25. November 1973: Deutschland befindet sich im Aus- nahmezustand. Wegen der Ölkrise müssen die Deutschen "ihr liebstes Kind" stehenlassen. Bundeskanzler Willy Brandt ruft den ersten von vier "autofreien Sonntagen" aus.
Pferdeäpfel? Richtig: "Ganz frische Pferdeäpfel" liegen am 25. November 1973 auf der Mannheimer Bundesstraße 38. Sie sind "untrügliches Zeichen dafür, dass etwas Bahnbrechendes geschehen sein muss", heißt es in einem Artikel des "Mannheimer Morgen". Zeichen für "das Sonntagsfahrverbot", resümiert der Autor des Berichts vom 26. November 1973.
Ein Kutscher bugsiert seine Droschke über die Planken, Radfahrer strampeln auf der A 6, Autos reihen sich in Garagen und auf Parkplätzen aneinander. Und überall Schaulustige. Immer wieder Neugierige, die einen Blick auf das Spektakel vor der Haustür erhaschen wollen. "Zweifelsohne ein Tag mit Eventcharakter", sagt Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Heidelberger Universität. Viele Menschen könnten sich noch gut an ihren Spaziergang über menschenleere Autobahnen erinnern.
Was Bilder von damals nicht zeigen, ist die Angst, die viele hegen. Die Furcht nach dem ersten Ölpreisschock. "Wir sind 1973 mitten im Ölzeitalter, das nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hat", sagt Wolfrum. Eine Zeit, in der sich die Menschen an Energieressourcen gewöhnt hätten, die scheinbar nie versiegen. "Dementsprechend hart ist es, wenn Industriegesellschaften auf einmal der Lebenssaft ihres Wohlstandes auszugehen droht", erklärt der Historiker.
Schwarzes Gold als Waffe
Knapp zwei Monate vor dem ersten autofreien Sonntag nimmt diese Bedrohung ihren Lauf. Am 6. Oktober 1973 bricht der vierte Nahostkrieg innerhalb von 25 Jahren aus. Am jüdischen Feiertag Jom Kippur greifen Ägypten und Syrien Israel an. Die israelische Armee schlägt zurück - beide Seiten erstarren im Stellungskrieg. In dieser Stunde entdecken die Ölscheichs im Osten das Schwarze Gold als Waffe, um politische Freunde Israels unter Druck zu setzen.
Die Organisation arabischer erdölexportierender Länder (OAPEC) kündigt an, die Produktion ab sofort um fünf Prozent zu drosseln - und jeden Monat um weitere fünf Prozent. Zunächst sind nur die USA betroffen, die Israel direkt unterstützen, bald aber alle Staaten des Westens - ein Schockmoment für die Bundesrepublik.
Die sozialliberale Regierung ergreift Sofortmaßnahmen. Innerhalb kurzer Zeit wird das "Energiesicherungsgesetz" auf den Weg gebracht. Damit soll der Energieverbrauch drastisch gesenkt, Ölvorräte sollen gehortet werden. Auf Autobahnen wird "Tempo 100" Pflicht, auf Landstraßen sind höchstens noch 80 Stundenkilometer erlaubt. Und: In der Vorweihnachtszeit werden auf den Straßen die Lichter ausgeknipst, um Strom zu sparen. Der Deutsche Fußballbund gibt Order, dass es bis Januar 1974 keine Flutlichtspiele mehr geben darf.
Die Regierung aber will noch mehr: ein Zeichen setzen. Und dazu etabliert sie die autofreien Sonntage. An vier Tagen im November und Dezember soll der Verkehr jeweils ab drei Uhr morgens für 24 Stunden ruhen. "Leere Autobahnen haben damals eine große Symbolkraft, gerade in einer Autofahrernation wie Deutschland", sagt Wolfrum. Und so zielt man mit diesen Sonntagen gar nicht so sehr auf gewaltige Benzineinsparungen ab. "Die Politik will vielmehr deutlich machen, dass etwas zu Ende geht", sagt der Experte.
Und wenn etwas zu Ende geht, mehren sich Zukunftsängste. So auch im November 1973. Die Menschen beginnen mit Hamsterkäufen. Sie horten Konserven und Kartoffeln in ihren Kellern. Sie deponieren zusammen Tonnen von Heizöl in ihren Gärten. Sie drängen an die Zapfsäulen der Tankstellen, um schnell noch Benzin zu ergattern. "Damals weiß man ja noch nicht, dass die Geschichte relativ glücklich ausgeht, dass das Ende der Erdölreserven noch nicht erreicht ist", sagt Wolfrum.
Beim "Mannheimer Morgen" klingeln vor dem ersten autofreien Sonntag ununterbrochen die Telefone. Ein Polizeikommissar und ein ADAC-Experte stellen sich den Fragen der Leser. Vor allem gegen neun und nach 12 Uhr ist der Andrang groß. "In den Nachmittagsstunden mussten die Telefone sogar abgeschaltet werden", heißt es in der Zeitung.
"Man kann uns nicht erpressen"
Die Anrufer treiben unterschiedliche Sorgen um. Ein Leser will wissen, ob "schwerbeschädigte Gehbehinderte" ihren Wagen nutzen dürfen. Ein anderer, wie viel Treibstoff in Kanistern über die Grenze gebracht werden darf. Und wieder einen anderen beschäftigt, ob er trotz Fahrverbot zu seinem Pferd in den Odenwald fahren darf, um es zu füttern. Die Verunsicherung ist groß.
Am gleichen Abend wendet sich Willy Brandt über das Fernsehen an die Nation. "Die junge Generation erlebt zum ersten Mal, was ein gewisser Mangel bedeuten kann", sagt er. Aber: "Man kann uns nicht erpressen, wenn wir der Not begegnen, ehe sie uns wirklich auf den Nägeln brennt."
Und dann kehrt auf Straßen in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz Stille ein. Einige wenige Fahrzeuge sind mit Sondergenehmigung unterwegs. Wer sonntags arbeiten muss, hat diese im Vorfeld beantragen können. Ohne, drohen hohe Geldstrafen. Der Tag verstreicht ohne größere Zwischenfälle. Ebenso der folgende Sonntag. Und der darauffolgende. Und der darauffolgende. Die Medien fahren ihre Berichterstattung zurück.
Ende Dezember lockern die arabischen Ölstaaten die Abgabebeschränkungen. Die Lage entspannt sich - auch wenn das Rohöl teuer bleibt. Ende 1973 hat sich der Barrelpreis vervierfacht. Für Anfang 1974 anberaumte autofreie Sonntage werden wieder abgesagt. Das Öl fließt wieder wie gewohnt. Aber etwas hat sich verändert: Die Menschen haben sich verändert.
Mentalitäten wandeln sich
"1973, 1974 findet ein Strukturbruch statt. Das System der klassischen Industriegesellschaft läuft aus", sagt der Historiker. In Deutschland bricht nach diesem Ölpreisschock, nach den autofreien Sonntagen, die Ära der großen sozialen Bewegungen an. "Menschen richten sich auf einmal gegen Großprojekte, gegen Einsparungen oder setzen sich für die Umwelt ein. All das beginnt in dieser Zeit", sagt Wolfrum. Man macht sich auf einmal Gedanken über den Umgang mit Umwelt und Energie. Das führe zu einem Mentalitätswandel und mache die "Grünen" stark. Es bewege aber auch die traditionellen Parteien dazu, Umweltpolitik in ihrem Parteiprogramm zu verankern.
In den 80er Jahren vergesse man während der wirtschaftlichen Hochphase einige der Ideen wieder. "Aber in den 90ern und 2000ern, da kommt alles wieder hoch. Und im Prinzip diskutieren wir heute wieder, was damals schon diskutiert worden ist", sagt Wolfrum.