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Lanz, Lehrpläne, Laubbläser – Klick-Kampagnen im Netz

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Basisdemokratie oder plumpe Pöbelei? Online-Petitionen laden dazu ein, dass sich im Netz jeder über alles beschwert. Manchmal endet das im Shitstorm. Können wir uns trotzdem über diese Form von Kommunikation freuen? Es ist schon ein Ärger mit diesen Laubbläsern in Dresden. Die laufen mit Kraftstoff und wenn sie durch die Straßen der sächsischen Landeshauptstadt dröhnen, kann man unmöglich in Ruhe arbeiten. Da ist sich Tom Lehnert sicher. Als Lehramtsreferendar sitzt der 26-Jährige schließlich oft zuhause am Schreibtisch. "Es ist Irrsinn, so etwas einzusetzen", schimpft er am Telefon. Einmal, als der Lärm nicht mehr auszuhalten war, platzte Lehnert der Kragen. Er stellte einen der Männer, die das Gerät bedienen, zur Rede. "Der wollte darauf aber nicht eingehen", sagt der junge Mann. Darauf wandte er sich an die Stadt. Doch auch da habe man nicht reagiert. Schließlich tat Lehnert das, was man derzeit eben so tut, wenn einem etwas gehörig auf den Senkel geht. Er startete eine Online-Petition. Ein paar Klicks später war der Text im Netz: ein Protest gegen Geräte, die "Lärmpegel"überschreiten, die Mitarbeiter der Stadt "einseitig belasten", die "Schadstoffe" ausstoßen. Kurz: ein flammender Appell für Rechen und Besen. Wenn eines bleibt nach der Aufregung um die Online-Petition gegen "Wetten, dass...?"-Moderator Markus Lanz, dann ist es die Erkenntnis, dass im Netz weiter gegen alles und jeden geschimpft wird - und das immer häufiger auf pseudo-offizieller Ebene. Früher musste man bei Wind und Wetter durch Fußgängerzonen tingeln, um ein paar Unterschriften für ein Anliegen zusammenzuklauben - heute genügt es, sich bei Plattformen wie Change.org, Avaaz.org oder OpenPetition anzumelden. Auf solchen Seiten von Bürgerbewegungen oder gemeinnützigen Unternehmen können Nutzer nach Angabe ihrer Daten Petitionen starten, zeichnen oder auch gegebenenfalls diskutieren. Im Gegensatz zu den von Bund und Ländern eingeführten Online-Petitionen richten sich diese Anliegen nicht direkt an einen Petitionsausschuss. Sie gleichen vielmehr einem Appell an die Politik, an Unternehmen oder andere Institutionen. Der Petent entscheidet, an wen er die Unterschriften übergibt. Plattform sorgt für Aufsehen Nicht-offizielle Online-Petitionen drehen sich deshalb um alles mögliche: um die Eurorettung, um die Forderung, in Deutschland künftig wieder einem König zu huldigen - oder eben um Laubbläser. Sachpolitik oder einfache Polterei - Fritz Schadow ist das egal. "Wir maßen uns nicht an, zu entscheiden, welche Anliegen relevant sind und welche nicht", sagt der 35-Jährige. Schadow ist Sprecher von OpenPetition. Die Plattform aus Deutschland hat in der Vergangenheit immer wieder für Aufsehen gesorgt - und Diskussionen geprägt. Zum Beispiel beim Streit um den Bildungsplan in Baden-Württemberg, als sich im Winter über den Umgang mit Homosexualität in der Schule gezankt wurde. Und bei der Debatte um Markus Lanz. Der hatte sich bekanntlich im Januar in seiner Talkrunde ziemlich unverhohlen auf die stellvertretenden Linken-Vorsitzenden Sahra Wagenknecht eingeschossen - und damit das ZDF in Erklärungsnöte gebracht. Über 230 000 Menschen zeichneten die Online-Petition gegen Lanz - wahrscheinlich die berühmteste des Landes. Seit 2010 gibt es OpenPetition. Jahr für Jahr habe sich die Zahl der Nutzer verdoppelt, teilt die Organisation mit - nun sind es über drei Millionen. 2013 wurden etwa 1300 neue Petitionen gestartet. In den vergangenen Wochen verzeichneten die Macher nochmals ein sattes Plus. "Während der Debatte um die Lanz-Petition haben deutlich mehr Menschen Petitionen erstellt und unterstützt als sonst", sagt Schadow. Markus Lanz hätte auf all das wohl gerne verzichtet. Schließlich endete die Kritik an seinem Fragestil, die unter dem unmissverständlichen Titel "Raus mit Markus Lanz aus meinem Rundfunkbeitrag!" als Petition einer gewissen Maren Müller durchs Netz rollte, im Shitstorm. Von Feigheit und Dilettantismus war da in Kommentaren die Rede - um bei den netteren Formulierungen zu bleiben. Kritiker betrachteten das als "Lynchjustiz", andere sahen solche Vorwürfe wiederum als das ständige Herummäkeln an der vom Netz geförderten Bürgerbeteiligung. Was blüht uns also durch den Vormarsch der Online-Petitionen? Öffnen sie erst die Fenster, damit uns weitere dreckbeladene Stürme überziehen können - oder helfen sie gar auf dem Weg zu mehr Demokratie, zu mehr Mitsprache bei Europa, Bildungsplänen, Laubbläsern? "Ich begrüße die Möglichkeit, leicht Anliegen zu formulieren, sodass man Unterstützung gewinnen kann", sagt Jan-Hinrik Schmidt, Medienwissenschaftler an der Universität Hamburg. "Wir sehen hier eine Form, in der das Internet gesellschaftliche Teilhabe fördert." Beachtliche Erfolge Tatsächlich gibt es Online-Petenten mit beachtlichen Erfolgen. 2012 beispielsweise startete ein Mann aus dem Harz eine Petition gegen die Gema-Reform, die mit Plänen zur Gebührenerhöhung vor allem Club-Betreibern den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Über 300 000 Menschen folgten der Petition, die Reform wurde vorerst aufs Eis gelegt, neue Tarife ausgehandelt. Derzeit sorgt eine Online-Petition auf change.org für Aufsehen, die sich für Hebammen stark macht. Die fürchten angesichts stark gestiegener Tarife für Haftpflichtversicherungen um ihre Existenz. Rund 360 000 haben das Anliegen bislang unterzeichnet. Die Bundesregierung hat sich inzwischen eingeschaltet. Allerdings, so schränkt Medienforscher Schmidt ein, müsse man auch bei Online-Petitionen nicht alle "Auswüchse akzeptieren". Es gehe hier um die generelle Frage, wie im Netz eigentlich diskutiert wird. Beschimpfungen gebe es im Netz auch ohne Petitionen. "Die Teilnahme an einer Online-Petition ist zunächst einmal kein Akt des Pöbelns." Dass sich dennoch Shitstorms rund um Petitionen entwickeln, habe auch mit der Frage zu tun, wie die Kommentarbereiche auf den entsprechenden Seiten kontrolliert werden. "Wenn hier die Moderation nur in den Händen der Nutzer liegt, ist die Chance natürlich höher, dass es zu Auswüchsen kommt." Keine Proteste gegen Einzelne Das sieht auch der Mainzer Medienpsychologe Leonard Reinecke so. "Bei den Kommentaren sind wir in einem Bereich der Selbstoffenbarung", so Reinecke. "Da geht es darum, sich als Person zu positionieren. Solche Online-Kommunikation hat einen enthemmenden Einfluss auf unsere Bereitschaft, etwas preiszugeben." Zudem sei das Bedürfnis, sich permanent mitzuteilen, nicht neu. "Das wohnt uns inne", sagt Reinecke. "Online-Medien haben nur neue Kanäle geschaffen, die es einfacher machen, sich zu äußern." Bei OpenPetition überlässt man die Kontrolle trotzdem den Nutzern. "Selbstmoderation" nennt Schadow das. Wer einen Kommentar unangemessen findet, kann diesen melden. Dennoch haben die Macher Lehren aus der Sache mit Lanz gezogen - und lassen Petitionen gegen einzelne Menschen nicht mehr zu. Man wolle Bürger darin unterstützen, gesellschaftliche Entscheidungsprozesse mitzugestalten, so Schadow. "Dabei geht es nicht um die Bewertung von Einzelpersonen. Die Lanz-Petition hat gezeigt, dass wir das deutlicher herausstellen müssen." Zurück zu Dresden, zu Tom Lehnert, zurück den Laubbläsern. 49 Menschen haben in den ersten Wochen ihren Namen unter die Petition gesetzt - nicht gerade ein Sturm der Entrüstung. Dabei sollen die Unterschriften einmal die Oberbürgermeisterin beeindrucken. "Ich hatte mir schon mehr erhofft", gesteht Lehnert. "Vielleicht ist es auch der falsche Kanal, ich warte einfach mal ab." Zur Not hat Lehnert ja noch ein Ass im Ärmel. Wenn es online nicht läuft, will er Unterschriften sammeln. Ganz klassisch. Auf der Straße.

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