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Gorbatschow – ein Mann, der alle Mauern einriss

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Er ist der tragische Held der Weltgeschichte: Michail Gorbatschow wollte die Sowjetunion reformieren, aber sie ging unter. Die Deutschen dagegen lieben ihn - sie verdanken ihm die Einheit. Als Michail Sergewitsch Gorbatschow am 11. März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei gewählt wurde, dachte niemand daran, dass die Restlaufzeit der Sowjetunion nur noch sechs Jahre betragen würde. Und als Gorbatschow am 12. Juni 1989 die Bundesrepublik besuchte, dachte niemand daran, dass die Mauer nur fünf Monate später fallen würde. Kein Wunder, dass dieser Mann in den Geschichtsbüchern ein gespaltenes Echo auslöste: Für die Russen gilt er noch heute als der Totengräber ihres Reichs, die Deutschen dagegen verehren ihn, denn Gorbatschow beendete den Kalten Krieg und damit die Teilung Deutschlands in zwei durch eine Mauer getrennte Staaten. Bei seinem Machtantritt lag das alles in weiter Ferne. Das provinzielle Bonn war noch die Hauptstadt der Bundesrepublik, dort regierte der Pfälzer Helmut Kohl. Später wurden der Kanzler und Gorbatschow Busenfreunde, aber am Anfang hatte Kohl keine gute Meinung vom Kremlchef. "Das ist ein moderner kommunistischer Führer, der war nie in Kalifornien, nie in Hollywood, aber der versteht etwas von PR. Der Goebbels verstand auch etwas von PR. Man muss doch die Dinge auf den Punkt bringen!" - so Kohl in einem Interview mit dem US-Nachrichtenmagazin "Newsweek" 1986. Abgewirtschaftetes Riesenreich Die Sowjetunion war damals bereits ein abgewirtschaftetes Riesenreich, der Kalte Krieg mit seinen enormen Rüstungskosten hatte zu einer imperialen Überdehnung geführt. Daran änderten auch die fürs Volk gefälschten Statistiken nichts. Die Sowjetunion war aber auch einfach zu lange von alten Männern regiert worden, die mehr Zeit im Krankenhaus als am Schreibtisch verbrachten. Als der sieche Leonid Breschnew 1982 starb, folgten ihm in kurzen Abständen Juri Andropow und Konstantin Tschernenko nach. Die Staatsbegräbnisse in Moskau häuften sich. Erst mit dem damals 54-jährigen Gorbatschow wurde die Ära der Gerontokratie - also der "Herrschaft der Alten" - beendet. Gorbatschow fasste diese traurige Ära mit dem Begriff "Stagnation" zusammen. Recht schnell stellte sich heraus, dass der Kommunist dies radikal ändern wollte. "Perestroika", der Umbau von Politik und Gesellschaft, dieses fremde Wort ging den Deutschen schnell ebenso flüssig über die Lippen wie "Glasnost" - Offenheit, Transparenz. Plötzlich berichtete die sowjetische Presse über Dinge, die früher der Zensur zum Opfer gefallen waren. Im Dezember 1986 wurde der Regimekritiker Andrei Sacharow rehabilitiert und durfte aus der Verbannung zurückkehren. Weniger beliebt war Gorbatschows Feldzug gegen den Wodka - im Land der notorischen Trinker ging das gar nicht. Es passierten ungeheure Dinge in der Sowjetunion. Auch Helmut Kohl merkte irgendwann, dass da nicht nur ein Propaganda-Experte am Werke war. Gorbatschow konnte aber nicht sofort frei schalten, obwohl er gleich zu Beginn seiner Amtszeit versuchte, seine eigenen Leute im Staats- und Parteiapparat zu positionieren. So ersetzte er zum Beispiel den ewigen Außenminister Andrei Gromyko ("Genosse Njet") durch seinen Vertrauten Eduard Schewardnasde. Mit diesen Maßnahmen und der Unterstützung der Öffentlichkeit wollte er den Widerstand der Betonköpfe in der KPdSU brechen. Die Gorbatschow-Fans fieberten mit ihrem Helden mit. Außerdem interessierten sie sich für seine kluge und schöne Frau Raissa Gorbatschowa - aber das ist eine andere Geschichte. Neben Perestroika und Glasnost setzte der Reformer in der Außenpolitik mit seinem "neuen Denken"ein für das Ende des Kalten Kriegs entscheidendes Konzept durch: Er distanzierte sich 1988 von der Breschnew-Doktrin, die von der begrenzten Souveränität der Satelliten-Staaten ausging und nachträglich den Einmarsch in der Tschechoslowakei 1968 (Prager Frühling) rechtfertigte. Die Sowjet-Truppen verließen 1989 nicht nur das besetzte Afghanistan, Gorbatschow erlaubte den Staaten des Warschauer Pakts mit seiner Sinatra-Doktrin ("I Did It My Way"), ihre Zukunft selbst bestimmen zu können. Und das machten sie dann ja auch, als der "Wind Of Chance" 1989 Europa erfasste. Selbst im Rückblick klingt das alles unfassbar. Noch im Juni 1987 wurde der damalige US-Präsident Ronald Reagan von der Linken als Kalter Krieger verurteilt, weil er den KPdSU-Chef in einer Rede vor dem Brandenburger Tor öffentlich aufgefordert hatte: "Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!" Zwei Jahre später war es soweit - neben Gorbatschow gab Reagans Nachfolger George H. W. Bush, der heute 90 wird, seinen Segen. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist noch immer offen, ob Gorbatschow als Überzeugungstäter unterwegs war oder wie der Zauberlehrling einfach die Geister nicht mehr los wurde, die er gerufen hatte. Der Schrei nach Freiheit und Demokratie hatte längst die Grenzen der Sowjetunion überschritten. Überall im Einflussgebiet des Warschauer Paktes rumorte es. In Ungarn, in der Tschechoslowakei in Polen und schließlich in der DDR. Diese vier Länder hatten schon in der Vergangenheit unter der Knute der Großmacht leiden müssen. Doch unter Gorbatschow schien plötzlich alles möglich. Er ermunterte die Kritiker in seinem Land und in den Satellitenstaaten. Gorbatschow träumte von einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", aber er dachte nicht im Traum daran, dass sich diese Länder alle vom Kommunismus lossagen würden. Und natürlich auch nicht daran, dass die Sowjetunion untergehen würde. Überhaupt keine Sorgen musste er sich lange um die Bündnistreue der DDR machen. Dort erwiderte Erich Honecker die Schalmeienklänge von Udo Lindenberg im "Sonderzug nach Pankow" nicht, seine Devise lautete noch im Herbst 1989: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf." Gorbatschow musste bei seinem Ost-Berlin-Besuch erkennen, dass die Zukunft der DDR auf dem Spiel stand. Seine berühmte Warnung "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" erfüllte sich. Mit den für die Deutschen bekannten Folgen. Gorbatschow selbst verlor alles: Er war der erste gewählte und zugleich letzte Staatspräsident der Sowjetunion. Kreml-Chef Wladimir Putin bezeichnete den Zerfall des Vielvölkerstaats später als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Und in Russland werden die Massenmörder Lenin und Stalin noch heute mehr geliebt als Gorbatschow.

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